MITTEN IM HERZEN VON PARIS: DAS CENTRE GEORGES POMPIDOU

Centre Georges Pompidou, Juni 2023 © Archiv Anna Albrecht

Hin und wieder trifft man auf Menschen, die einem auf Anhieb so vertraut sind wie sonst nur langjährige Freunde. Genauso gibt es auch Orte, die einen sofort ansprechen und umarmen, obwohl man sie kaum kennt. So erging es mir im letzten Jahr, als ich nach ziemlich genau 40 Jahren zum ersten Mal wieder auf dem Platz vor dem Centre Georges Pompidou stand. Das poppig struppige Kulturzentrum der 70er Jahre eroberte mein Herz im Sturm. Und heute, ein Jahr später, hat es seinen Platz nicht nur behauptet, sondern sich dort regelrecht eingenistet.

Paris, März 2024 © Stephan Albrecht

Jedes Mal, wenn ich die bunten Rohre meiner großen Liebe in der Ferne aufblitzen sehe, über den Dächern der Stadt oder durch schmale Straßenschluchten, wird es mir ganz warm ums Herz.

Paris, Juni 2023 © Archiv Anna Albrecht

Schlimmer noch, ich erwische mich dabei, wie ich Umwege in Kauf nehme, nur, um einfach mal kurz vorbeizuschauen und mich zu vergewissern, das alles noch an seinem Platz ist. Sind die Schlangen vor den Eingängen wider Erwarten kurz, passiert es sogar, dass ich mich kurzerhand einreihe und auf den Treppen nach oben rollen lasse. Denn die Fahrt nach oben ist mindestens so zauberhaft wie der Blick von der Dachterrasse.

Paris, Juni 2024 © Archiv Anna Albrecht

Langsam steigt man aus den steinernen Schluchten der ächzenden Millionenstadt in die Höhe, lässt Lärm, Staub, Alltag hinter sich und bekommt zur Belohnung auch noch ein wogendes Häusermeer serviert. Als hätte man am Eingang ein Ticket für „Einmal Paris Rundum“ gebucht. Denn hier oben lassen sich alle großen und kleinen Wahrzeichen von Paris blicken – die Türme von Saint Jacques und dem Montparnasse, die Kuppeln des Pantheons und Invalidendoms, das stählerne Gerüst des Eiffelturms, die hohen Dächer des Louvre,

Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

die Kuppel der Bourse de Commerce, die Türme von Saint Eustache, die Opera Garnier

Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

und natürlich die Basilika Sacré Coeur auf dem Montmartre, die Kathedrale Notre Dame, die seit kurzem ihren Vierungsturm zurück hat und und und…

Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Der Blick vom Centre Georges Pompidou erscheint mir fast immer noch wie ein Geheimtipp, der umsonst zu haben ist und möglicherweise auch noch viel charmanter ausfällt als der Blick vom Eiffelturm, den man von hier aus direkt vor Augen hat.

Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Aber ist es nur der Blick, der mich am Centre Pompidou immer wieder aufs Neue bezaubert?

Paris, Juni 2023 © Anna Albrecht

Nein. Da ist noch etwas anderes. Der Ort und seine Geschichte? Die Antworten, die er auf viele meiner Fragen gibt? Schließlich befinden wir uns hier mitten im Herzen von Paris. Die ungewöhnliche Architektur, das kulturelle Angebot und die Geselligkeit rund um den Bau sind umwerfend vielfältig, dabei rede ich noch nicht einmal über den frisch renovierten Stravinski-Brunnen, den Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely schufen oder das Atelier Brancusi (beide flankieren den Bau). Werfen wir also einen Blick hinter die Kulissen. Tatsächlich ist die Geschichte des offiziell als „Centre national d’art et de culture Georges-Pompidou“ bezeichneten Gebäudes rasch erzählt. Einerseits wollten die Pariser Ende der 60er Jahre ein neues Museum für die Kunst des 20. Jahrhunderts einrichten, andererseits sollte die alte Nationalbibliothek entlastet und noch dazu ein Ort geschaffen werden, der allen Bevölkerungsschichten den Weg zu Kunst, Kultur und Wissen bahnt. Für dieses ehrgeizige Unterfangen kam nur ein einziger Platz in Frage: der alte Parkplatz im Beaubourg, zwischen dem Marais und den Hallen gelegen, der schon seit Jahrzehnten in den Händen der Lieferanten des Großmarktes nebenan lag. 1969 war der Großmarkt nach Rungis umgezogen und der Platz im Herzen von Paris wieder frei. So wurde das ehrgeizige Bauprojekt 1970 international ausgeschrieben. Es war der kühne Entwurf des italienischen Architekten Renzo Piano und seines britischen Kollegen Richard Rogers, das den Zuschlag bekam. Die beiden gründeten ihr Büro in Paris und im April 1972 begannen schon die Bauarbeiten. Mitten im Beaubourg klaffte alsbald ein riesiges 20 Meter tiefes Loch für Fundament und Untergeschosse.

Paris, Juni 2023 © Archiv Anna Albrecht

Mächtige Tragwerkteile wurden nachts durch die Stadt gefahren und fünf Jahre später ragte aus dem Herzen von Paris ein Hightech-Gebäude in die Höhe, das die einen als „Le Monstre de Marais“ beschimpften und die anderen begeisterte. Auf jeden Fall war das Gebäude ein moderner und starker Auftritt - über seinen Charme lässt sich natürlich streiten.

Paris, Juni 2023 © Archiv Anna Albrecht

Und heute? Die Kritik ist abgeflaut, Gewöhnung und Akzeptanz haben gewonnen. Kein Wunder, denn das Konzept „Kunst und Wissen für alle“ funktioniert, aber dennoch schütteln vermutlich viele immer noch den Kopf. Warum? Sie wissen mit dem stählernen Riesen aus Stahlfachwerk und Röhren, technisch wie eine Raffinerie, knallbunt wie ein Osterei und zugänglich wie ein Allerweltsgebäude, nichts anzufangen, empfinden sein funktionales Antlitz gar als Zumutung. Dabei, was für ein Gebäude hätten sie sich hier vorstellen können, die Kritiker? Mitten in der alten Bebauung des Beaubourg? Mächtig kommt das Kulturzentrum daher, ja, aber trotzdem ist sein Äußeres kleinteilig in der Struktur und transparent in der Fassadengestaltung.

Paris, März 2023 © Archiv Anna Albrecht

Aber ist es ein repräsentativer Bau für Kunst, Kultur und Bibliothek? Tatsächlich ging das Architektenteam einen mehr als ungewöhnlichen Weg: Zunächst einmal schufen sie einen tiefergelegten Platz und damit einen im wahrsten Sinne des Wortes niederschwelligen Zugang ins Gebäude zu Kunst, Kultur und Wissen.

Paris, Centre George Pompidou, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Die Idee dahinter? Hier sollte kein Kunsttempel mit pompösem Treppenaufgang, prachtvollem Portal und mächtiger Geste entstehen, sondern ein Gebäude, das alle gleichermaßen anspricht und empfängt – mit Glastüren zwischen stählernen Betonstützen, bebenden Windverbänden und knalligen Farben.

Paris, Centre George Pompidou, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Dabei ist auch ein Platz entstanden, der in seiner heutigen Ausstrahlung wie eine italienische Piazza wirkt. Hier versammeln sich Musikerinnen und Akrobaten, Touristen, Schulklassen, Spaziergänger, Kulturhungrige und Neugierige. Sie alle finden ihren Platz zum Picknicken, Plaudern, Pausieren und manche belegen sogar einen Logenplatz.

Paris, Juni 2023 © Archiv Anna Albrecht

Und die Architektur des Gebäudes? Ist es überhaupt eine Architektur? Die Fassade aus Stützen und Röhren erinnert doch mehr an eine Fabrik als an gebaute Kunst, setzt voll und ganz auf die Ästhetik ihres Tragwerks, das in Modulen funktioniert und macht deutlich, dass das, was dahinter steckt, nach außen gestülpt ist – mehr Transparenz geht nicht, oder?

Paris, Centre George Pompidou, Juni 2023 © Archiv Anna Albrecht

Noch dazu, wo die Architekten auch die Funktionen der Rohre offenlegen – mit den Farben des lebenden Organismus: Blau ist alles, was atmet (Klimaanlage), durch die grünen Leitungen fließt das Wasser, durch gelbe der Strom und rot gefärbt sind alle Wege der Bewegung – hier zirkuliert alles wie das Blut in den Adern des menschlichen Körpers.

Paris, Centre George Pompidou, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Übrigens, die Anregung, dem Gebäude mehr Farbe zu geben, kam von dem Präsidenten der Republik höchstpersönlich, das war Präsident George Pompidou, der die Fertigstellung des Kulturzentrums leider nicht mehr erlebte, er starb 1974. Dafür bekam das Gebäude seinen Namen und im Inneren ehrt ihn ein Porträt des Künstlers Victor Vasarely.

Paris, Centre George Pompidou, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Mag das Äußere für manchen Betrachter verwirrend sein, im Inneren findet sich jede und jeder rasch zurecht: in der hellen Eingangshalle (dem Forum) empfangen uns Boutique und Buchladen, ein Spielplatzplateau für Kinder und dazu noch ein Café. Die ersten beiden Obergeschosse beherbergen die öffentliche Bibliothek und die wissenschaftliche. Darüber liegen die Räume der Kunst, dort haben nicht nur temporäre Ausstellungen, sondern auch die ständige Sammlungen ihren Platz, inklusive eines offenen Innenhofs mit Wasserbecken und Skulpturen. Die ständige Sammlung bietet übrigens alles, was das Herz begehrt, um sich auf die Kunst des 20. Jahrhunderts einzulassen: Große Gemälde und kleine Studien, Skulpturen, Designobjekte, Mode, Architekturmodelle, hier wird das 20. Jahrhundert in seiner ganzen Vielfalt entfaltet. Im Untergeschoss warten Kino, Fotogalerie und verschiedene Veranstaltungsräume.

Paris, Centre George Pompidou, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Warum mich das Centre George Pompidou so begeistert? Das Ungewöhnliche, das Offene, die Vielfalt, die Weitsicht, das Quirlige, die Poesie des Technischen, der Genius Loci. Es gibt viele Gründe, warum ich das Centre George Pompidou in mein Herz geschlossen habe und doch steckt mehr dahinter. Was ist sein Geheimnis?

Auch dabei geht es mir so wie mit vertrauten Menschen. Das Geheimnis von Anziehung und Vertrautheit ist zugleich auch der Zauber, den man nicht lüften muss. Fein, denke ich mir, so werden wir uns auf keinen Fall mehr aus den Augen verlieren - so wie es mit guten Freunden eben ist.

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DER BAUCH VON PARIS: DAS WESTFIELD FORUM DES HALLES

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