DER BAUCH VON PARIS: DAS WESTFIELD FORUM DES HALLES

Paris träumt, April 2023 © Archiv Anna Albrecht

Während ganz Paris noch von der Liebe träumt, sind wir schon auf dem Weg zu neuen Abenteuern: erste RER zum Fernbahnhof Gare de Lyon, erster TGV an die Côte Bleue, erste Stippvisite in Marseille. Jetzt, so kurz vor den Olympischen Spielen, ist sie mal wieder in aller Munde, die wilde Schönheit der südfranzösischen Hafenstadt am Mittelmeer mit ihren rauen Vierteln und malerischen Ecken. Für mich ist Marseille immer noch der Ort, von dem Paul Klee und August Macke im April 1914 mit dem Schiff nach Tunis aufbrachen, um sich vom afrikanischen Licht verführen zu lassen. Allein diese Vorstellung zieht mich schon wie magisch in Frankreichs zweitgrößte Metropole, vom allzu regnerischen Wetter hier in Paris mal ganz abgesehen.

Natürlich lässt die erste Hürde auch nicht lange auf sich warten. Kaum stehen wir nach fünf Minuten Fußweg vor der Porte Saint-Eustache, dem Zugang zum tiefen Schlund des Châtelet-Les Halles-Bahnhofs (hier treffen drei RER-Bahnen und fünf Metro-Linien zusammen), stellen wir fest, dass er geschlossen ist. Kurz vor 5.30 Uhr, wie kann das sein, an einem ganz normalen Werktag mitten in der Großstadt? Aber auch alle benachbarten Eingänge rund um das Einkaufszentrum „Les Halles“ sind geschlossen. Selbst die überdachte Halle, in der es tagsüber wie in einem Bienenkorb summt und brummt, ist verschlossen, die Rolltreppen stehen still, nur Flure und Schaufenster lassen ihr fahles Licht in den frühen Morgen fließen – grünlich, rosa, das alles erscheint mir unwirklich. Prompt kommen mir wieder Worte und Bilder in den Sinn, die beim Aufstehen längst verblasst schienen, mich aber in den frühen Morgenstunden in wilde Träume schickten....

Paris, Westfield Forum Les Halles, April 2024 © Anna Albrecht

Aber was ihn in Erstaunen setzte, waren riesige Hallen zu beiden Seiten der Straße, deren übereinander getürmte Dächer immer größer zu werden, sich auszudehnen und sich in einem zerstiebenden Schimmer zu verlieren schienen. Sein entkräfteter Geist träumte von einer Reihe unermesslicher und ebenmäßiger Paläste von kristallener Schwerelosigkeit, die auf ihren Fassaden tausend Flammenstreifen sich unendlich fortsetzender Jalousien entzündeten. Zwischen den schmalen Pfeilern bildeten diese dünnen gelben Stäbe Leitern von Licht, die bis zu der dunklen Linie der ersten Dächer emporstiegen, die darauf gehäuften oberen Dächer erklommen und die großen Gerippe unendlicher Räume in ihrer Vierschrötigkeit sehen ließen… Das verwunderte ihn tief. Er befand sich an der Pointe Saint Eustache. „Sagen Sie mal, wenn Sie lange von Paris fort waren, kennen Sie vielleicht die neuen Markthallen noch gar nicht? Es ist ja höchstens fünf Jahre her, dass sie gebaut wurden ... Da, sehen Sie, das neben uns ist die Blumen- und Obsthalle, etwas weiter die für Seefische, die für Geflügel und dahinter die für Grobgemüse, für Butter und Käse ... Sechs Hallen sind auf dieser Seite und dann gegenüber auf der anderen Seite noch vier – für Fleisch, für Kaldaunen…

Die neue Pavillonarchitektur der Pariser Markthallen um 1870 von Saint Eustache aus gesehen; © https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/6/6f/Vedere_a_Halelor_din_Paris_de_pe_Biserica_Saint_Eustache.jpg/1920px-Vedere_a_Halelor_din_Paris_de_pe_Biserica_Saint_Eustache.jpg

Es ist Florent, die aus einer jahrelangen Verbannung zurückkehrende Hauptfigur aus Émile Zolas berühmtem Roman „Le Ventre de Paris“ (Der Bauch von Paris), der 1873 erschien, durch dessen Augen wir die damals neu errichteten Pariser Markthallen vor Augen geführt bekommen – moderne Schirme aus starkem Eisen und funkelndem Glas. Zola schildert mit allen Tricks des raffinierten Romanciers, wie der ausgehungerte Florent zu früher Morgenstunde in den unablässigen Strom der Bauern eintaucht, die in die Stadt kommen, wie er sich verwirren lässt von den Pariser Markthallen, die er wegen seiner langen Abwesenheit noch nicht kennt, und wie er über die wachsenden Berge von frischem Obst und Gemüse staunt, die die Bäuerinnen in und um die Hallen auftürmen und feilbieten. Der Auftakt des Romans kommt als Fest der Sinne daher, wie ihn kein Maler malerischer hätte entfalten können.

Paris, Petit Palais, Les Halles, Öl auf Leinwand, Léon Lhermitte, 1895, für das Hôtel de Ville gemalt © Archiv Anna Albrecht. Im Vordergrund die Marktverkäuferinnen, Lastenträger und im Hintergrund die Hallen und das Strebewerk von Saint Eustache.

Während wir immer noch bange darauf warten, dass sich das Tor zur fahrenden Unterwelt öffnet, höre ich aus der Ferne das Holpern der schwer beladenen Marktkarren, das Schnauben der müden Tiere, die Stimmen der Marktverkäuferinnen, das Ächzen der Lastenträger, das Feilschen der Händler. Was für ein Boden, auf dem ich hier stehe und warte. Der zentrale Markt, Émile Zolas “Bauch von Paris”, versorgte jahrhundertelang die Pariser Bevölkerung mit frischen Nahrungsmitteln, bis Platz und Zuwege einfach nicht mehr ausreichten. 1969 verlegte man den Markt in das südlich gelegene Rungis, danach riss man die gläsernen Pavillons des 19. Jahrhunderts einfach ab.

Abriss der alten Pariser Markthallen 1971 © https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/4/41/Destruction_of_Les_Halles_1971.jpg/440px-Destruction_of_Les_Halles_1971.jpg

An ihrer Stelle errichtete man in den 70er Jahren ein modernes Einkaufszentrum, führte die neuen RER-Linien zum Bahnhof Châtelet-Les Halles zusammen. Sein tiefes und unübersichtliches Labyrinth meiden selbst die Pariserinnen und Pariser, wenn irgendwie möglich. An die alten Spiegelbauten und langen Gänge habe ich noch eine vage Erinnerung aus Schulzeiten.

Paris, April, Einige Überbleibsel des Einkaufszentrums Les Halles aus den 70er Jahren, das man Anfang des neuen Jahrtausends ebenfalls abriss. April 2024 © Archiv Anna Albrecht

Dabei hatten die alten Markthallen im Herzen von Paris lange Wurzeln, bis ins 12. Jahrhundert hinein! Damals verlegte der König den zentralen Markt genau an diese Stelle. François I ersetzte im 16. Jahrhundert die hölzernen Bauten durch steinerne Gebäude und errichtete die Kirche Saint Eustache. Von seinen Bauten blieb einiges bis ins 19. Jahrhundert bestehen. Damals war die Bevölkerung von Paris aber so rasant gestiegen, dass die Versorgung neu organisiert werden musste. Letztlich entschied Kaiser Napoleon III. , dass der zentrale Markt an alter Stelle bleiben, nur ein neues Gesicht bekommen sollte – modern und schön wie der Gare de l’ Est, der ihm so gefiel. Gern wird mit den Worten des Präfekten Éugene Haussmann erzählt, wie der Kaiser gesagt haben soll: "Ce sont des vastes parapluies qu’il me faut: rien de plus!“ (= Was ich brauche, sind große Schirme, sonst nichts!).

Paris, Sonntagsmarkt in der Rue Montmartre April 2024 © Archiv Anna Albrecht

Schließlich waren es die überarbeiteten Entwürfe von Felix Callet und Victor Baltard, die den Zuschlag bekamen (dabei soll Haussman seinem Freund Baltard kräftig unter die Arme gegriffen haben). Die Pläne der beiden Architekten sahen jene zwei Reihen von Pavillons in moderner Eisen-Glasarchitektur vor, wie sie dann auch verwirklicht wurden, die ersten beiden Pavillons weihte man Ende 1854 ein, die folgenden 1858, 1860 und 1874. Ihrer Modernität setzte Émile Zola dann mit seinem Roman „Der Bauch von Paris“ das literarische Denkmal, das es in sich hat. Eigentlich wollte ich nur eben mal in das Buch hineinlesen, um mir einen kleinen Eindruck zu verschaffen. Aber dann hat mich das Schicksal von Florent, seinem Bruder und seiner Schwägerin dermaßen gefesselt, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand gelegt habe bis ich es spät in die Nacht durchgelesen hatte (zugegeben, in deutscher Übersetzung und mit jenen wilden Träumen als Nebenwirkung). Tatsächlich liest sich der Roman wie ein Gemälde der Zeit, geht direkt unter die Haut, weil Zola mit allen Sinnen und viel Ironie (vor allem mit Nase und Augen) den Ort, die Menschen und ihre gesellschaftlichen Zwänge beschreibt. Und das Ende? Das verrate ich an dieser Stelle natürlich nicht. Nur soviel: die Lektüre lohnt sich für jeden und jede, der das Paris des 19. Jahrhunderts ein bisschen mehr verstehen möchte.

Paris, April 2023 © Anna Albrecht

Der ganze breite Bürgersteig war von einem Ende zum andern mit den dunklen Gemüsehöckern bedeckt. In dem jähen und ungleichmäßigen Licht der Laternen war zunächst nur die fleischige Blütenpracht eines Bündels Artischocken, das zarte Grün von Salaten, das Korallenrot der Möhren, das matte Elfenbein der Kohlrüben zu sehen; und dieses Aufblitzen lebhafter Farben lief unter den Laternen die Haufen entlang. Der Bürgersteig hatte sich belebt; eine Menschenmenge erwachte und   erging sich, redend, rufend, stehenbleibend, zwischen den Waren. Von weitem rief eine laute Stimme: „He! Schikoree!“ Soeben waren die Gittertore für Grobgemüse geöffnet worden…

Paris, Sonntagsmarkt in der Rue Montmartre, im Hintergrund das Dach der Hallen, April 2023 © Archiv Anna Albrecht

Das gilt auch für uns, plötzlich schwingen die Gitter des U-Bahnhofs auf und der Weg in den Schlund von Châtelet-Les Halles ist frei. Während wir über menschenleere Treppen in die Tiefe rollen, frage ich mich, wieviel Geschichten und Bauten sich wohl über meinem Kopf türmen würden, wenn alles erhalten und überliefert wäre. Und wie sooft frage ich mich, was das eigentlich alles mit mir zu tun hat, warum es mich so beschäftigt. Es ist das bunte Gewirr an Stimmen aus der Vergangenheit, egal, ob in Paris oder anderswo auf der Welt, das mich immer wieder einholt. Je mehr ich über einen Ort lese und erfahre, desto lauter werden diese Stimmen. Sie dringen durch Mauern, Bücher und Bilder bis zu mir in die Gegenwart und verlangen nach Aufmerksamkeit. So entfaltet sich vor meinen Augen eine vielschichtige Welt, in die ich Schicht für Schicht immer tiefer eindringe und die mir immer wieder neue Entdeckungen und Abenteuer aller Art beschert.

Paris, Bourse de Commerce, April 2024 © Archiv Anna Albrecht

Inzwischen ist auch das Einkaufszentrum der 70er Jahre durch ein zweites Moderneres ersetzt worden. Eine Architektur mit zwei Gebäuden, einer zentralen Halle und einem Dach aus Metall und Glas, das in seiner geschwungenen Form an ein Blatt erinnern soll, daher auch der Name „La Canopée“, das Blätterdach.

Paris, Forum Les Halles, April 2023 © Archiv Anna Albrecht

Diese erst 2016 eingeweihte Architektur, die Einkaufen, Kultur-und Freizeitvergnügen in vier Geschossen tiefstapelt, hat eine lange und komplizierte Entwurfs- und Baugeschichte. Sie begeistert nicht jeden und schon gar nicht auf Anhieb, aber sie hat etwas an sich, das in unseren Zeiten selten geworden ist. Sie drängelt sich nicht vor, sie will nicht um jeden Preis auffallen, sondern sie passt sich dem Ort, seinen Vorgängern (ein bisschen etwas von dem alten Baltard Pavillon steckt doch auch im neuen Glas-Stahlgerippe, oder?) und seinem Zweck ebenso an wie den Menschen, die hier tagtäglich durch die Halle strömen. Alles ist im Fluss - und hier im wahrsten Sinne des Wortes. Das gefällt mir irgendwie.

Was mir auch gefällt, ist, dass das Blätterdach seine wahre Fortsetzung in dem grünen blühenden Nelson Mandela Park findet, der mit seinen Freizeitangeboten für jeden etwas parat hat (es gibt sogar einen eigenen Auslauf für Hunde). Auf den Grünflächen, Sport- und Spielplätzen ist immer Betrieb und auf den Bänken sitzt es sich gut. Nicht aufregend, aber einladend ist auf dem ehemaligen Gelände der alten Markthallen ein lebendiger Stadtraum geschaffen worden - immerhin!

Paris, Nelson Mandela Park, April 2024 © Archiv Anna Albrecht

Ich weiß, bis Marseille bin ich jetzt nicht gekommen, aber manche Geschichten drängeln sich vor und wollten längst erzählt werden. Ich muss jetzt erstmal Luft holen und schreibe morgen weiter. Soviel sei verraten, wir haben die RER und den TGV noch gerade rechtzeitig erwischt und sind dreieinhalb Stunden später unter einem stahlblauen Himmel im Gare Saint Charles in Marseille ausgestiegen.

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MARSEILLE – DIE VIELEN STIMMEN EINER STADT

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