EINKAUFEN MIT SCHIRM, CHARME UND GENUSS

Irgendwo in den Straßen von Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Seitdem wir in Paris sind, regnet es reichlich. So gibt es zwar Zeit zum Arbeiten, aber nicht immer Lust. Kein Wunder, wenn hinter dem Bildschirm eine Stadt wie Paris wartet, die selbst im Nieselregen ihren Charme versprüht. Daran können auch die beiden (zugegebenermaßen sehr stilvollen) Bibliotheken, die wir besuchen, nichts ändern.

Paris, Bibliothèque Nationale, Salle Labrouste, März 2024 © Anna Albrecht

Was mich nach wie vor am meisten in den Bann zieht, ist das Alltagsleben in Paris. Wie es sein Gesicht verändert von Viertel zu Viertel, vom ernsten Morgen bis in den übermütigen Abend hinein, von Straße zu Straße, von Mensch zu Mensch. Wer gehört hierher und wer ist Zaungast?

In den Straßen von Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Wer geht welchem Beruf nach?

Paris, Galerie Vivienne, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Und wer gehört schon seit Jahren zum Straßenbild?

In den Straßen von Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Vieles wandelt sich, aber ein paar Dinge bleiben gleich: die eingezäunten Squares und vollen Cafés, die Handwerkerateliers und kleinen Läden. Sie wechseln sich ab wie Sonne und Wolken und genau das macht den Flair der Stadt aus. Wieso überlebt im teuren Paris etwas, das in deutschen Städten kaum eine Überlebenschance hat – der individuelle Einzelhandel?

In den Straßen von Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Es ist genau die Mischung an kleinen Läden, die aus jedem Streifzug ein kurzweiliges Einkaufsabenteuer werden lässt. Was den einen langweilt, beflügelt meine Neugier. Denn oft erzählen die kleinen Läden eine alte Geschichte. Ablesbar an Ladenfronten und -schildern, oder, wenn das Haus prominent genug ist, an einem der sogenannten „Starck-Ruder“. Das sind jene „Histoire de Paris-Schilder“, die der französische Stardesigner Philippe Starck (der mit der langbeinigen Alessi Zitronenpresse) entworfen hat. Seit 1992 „paddeln“ sie durch die Geschichte von Paris (das ist meine Version, die offizielle lautet, dass sich die „Info-Ruder“ auf das Pariser Stadtwappen beziehen: ein Segelschiff, das über alle Wellen hinweg “rudert”) und verraten viel über die Geheimnisse der Stadt.

Paris, Rue Montorgueil, Patisserie Stohrer, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Meine Einkaufsabenteuer reißen übrigens keine Löcher in den Geldbeutel, sondern stopfen Löcher – der Neugierde, der Stadtgeschichte. Seit einer geraumen Weile frage ich mich, wie es Paris schafft, diese unglaubliche Vielfalt an Läden zu erhalten. Wie wehrt es sich gegen die Monokultur großer Ketten und die Bequemlichkeit des Online-Handels? Tatsächlich hat die Stadtverwaltung schon vor Jahren ein Programm ins Leben gerufen, das den Einzelhandel gezielt fördert. Die Institution „Semaest“ besitzt das Vorkaufsrecht auf Ladenlokale, die sie erwirbt und zu einem fairen Preis an den Einzelhandel weiterverpachtet – den Schlachter, die Buchhändlerin oder die Handwerkergemeinschaft um die Ecke. Das kostet viel Geld, hält aber die Straßen lebendig, den Einkäufer und die Einkäuferin bei Laune. Auffällig ist, dass sich viele Pariser Viertel und Straßenzüge auf bestimmte Produkte spezialisiert haben: Das eine Arrondissement zieht Antiquitätenhändler und Antiquariate an, das andere junge Modedesigner mit hippen Showrooms und edlen Boutiquen, das dritte wartet mit so exklusiven Modegeschäften auf, dass ich mich kaum traue in die Auslagen zu schauen. Wenn doch, dann entdecke ich dort „Dinge“, von denen ich mir nicht einmal hätte träumen lassen, dass man sie anziehen kann. Auf mich persönlich üben die kleinen Handwerkerateliers und Läden des täglichen Bedarfs die größte Anziehungskraft aus. Patisserien und Boulangerien (natürlich), aber auch Schneidereien, Schuh- und Hutmacher, Polsterer, Schreiner und die Geschäfte, die ausschließlich eine Art von Ware führen – Perlen, Gardinen, Bänder, Papiere, Farben, Knöpfe, Karten oder Comics…  

Paris, Rue Bonaparte, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Heute ist so ein Tag, an dem ich plötzlich das Gefühl habe, dass das Leben da draußen an mir vorbeirauscht wie der Regen vor meinem Fenster. Kurzentschlossen klappe ich Buch und Laptop zu, schnappe mir einen Schirm und spaziere in den Regen hinaus – Café oder Einkaufsbummel? Einkaufsbummel, entscheide ich mit Blick auf den Himmel. Rechts oder links? Da kommt mir plötzlich der Laden an der Ecke der Rue Coquillière in den Sinn, nahe der Bourse de Commerce: dunkelgrüne Jalousien und ein interessanter Firmenname in gelben Lettern, vermutlich der Ladengründer – E. Dehillerin. Ich denke, dass sich dahinter ein Küchenladen verbirgt, soviel meine ich im Vorüberlaufen erspäht zu haben. In der Tat häufen sich in unserem Viertel die Küchenläden, also auf gehts!

Paris, Dehillern, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Als ich die Ladentür aufstoße, steigt mir ziemlich muffige Luft in die Nase. Aber sie ist es nicht, die mir die Sprache verschlägt, sondern die Pracht vor meinen Augen: Regalmeter für Regalmeter, Reihe für Reihe, Fach für Fach, Kupfertöpfe, Pfannen, Messer und Backformen noch und nöcher – alles, was mein leidenschaftlich für die Bäckerei schlagendes Herz begehrt. In jeder Größe, in jedem Format. Sogar von der hohen Decke baumeln die Koch- und Backutensilien herab. Dehillerin entpuppt sich als großes Küchengeschäft vom alten Schlag. Tatsächlich erinnert es mich spontan sogar an unseren alten Schraubenladen zuhause, den es (natürlich) nicht mehr gibt. Dort konnte man jede Schraube einzeln kaufen. Egal, wonach man suchte, das fachkundige Personal wusste immer Rat und fischte mit sicherem Griff die richtige Schraube aus einer der vielen alten Schübe hinter der Theke. So ähnlich fühlt es sich hier an.

Paris, Dehillern, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Ich streife durch die Gänge bis hinunter ins Kellergewölbe. Hier lagern unverschämt riesige Töpfe und Pfannen für die Großküche.

Paris, Dehillern, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Und wenn ich nur an die vielen ungebackenen kleinen Tartelettes und Tarte Tatins denke, läuft mir direkt das Wasser im Mund zusammen. Hin und wieder kann ich einfach nicht widerstehen, fahre mit den Fingern durch die sanfte Mulde einer besonders elegant geformten Tartelette in Schiffchengestalt,

Paris, Dehillern, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

wiege einen gigantischen Schneebesen in der Hand und stelle mir vor, wie ich ihn durch einen riesigen Topf gelber Crème Patissière ziehe.

Paris, Dehillern, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Kurzum, „Dehillerin“ ist kinoreif – kein Schnickschnack, keine Deko, kein Getue. Das alles hat dieses Geschäft nicht nötig, denn sein Sortiment lässt auch bei großen Köchen keine Wünsche offen, dabei kommt die Ware ganz unprätentiös zwischen roh gesägten Brettern zur Geltung (nein, kein Shabby-chic- Ambiente).

Paris, Dehillern, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Eindeutiger kann eine Botschaft kaum sein: hier steht die Qualität der Ware, nicht ihre Verpackung im Vordergrund. Mehr noch, bei den im Schaufenster ausgestellten Geräten beschleicht mich angesichts der dicken Staubschicht fast das Gefühl, man habe die Sache mit dem britischen Understatement doch etwas zu wortwörtlich genommen.

Paris, Dehillern, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Als ich meiner Begeisterung bei einem der Verkäufer Luft mache, schmunzelt er. „Im Louvre finden sie die Kulturschätze, im Dehillerin das Herz von Frankreich.“

Was ist die Geschichte hinter diesem Küchengeschäft? Sein Gründer, Eugène de Hillerin, sei am Ende des 19. Jahrhunderts aus der Vendée nach Paris gekommen. Dort erwarb er ein Eisenwarengeschäft, eine Kesselschmiede und versorgte die wachsende Gastronomie im Hallenviertel mit Geräten. Das Geschäft florierte und 1890 zog es an die Rue Coquillière 18-20 um, wo es noch heute seinen Platz behauptet. Seitdem hat die Firma Dehillerin in der Gastronomie, Konditorei und Metzgerei einen Namen als Spezialist für die Lieferung und den Verkauf von qualitätvollem Küchengeschirr – Bescheidene Unterstützung bei der Förderung der französischen Küche. Bescheiden? Spätestens mit dem Fund einer Wasserbadpfanne im Wrack der Titanic, die den Schriftzug Dehillerin aufwies, ist klar: Dehillerin erfüllt alle Wünsche – die exklusiven und die alltäglichen. Als ich auf die Straße in den Nieselregen trete, fühlt sich der Löffel in meiner Tasche jedenfalls sehr exklusiv an – exklusiv Dehillern!

30 cm pures Glück, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

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