MARSEILLE – DIE VIELEN STIMMEN EINER STADT

Marseille, Bahnhof Saint-Charles, 2024 © Archiv Anna Albrecht

Für einen Moment sehe ich es am Horizont blau aufblitzen, ist das schon das Mittelmeer? Vergewissern kann ich mich nicht, zu schnell schieben sich Oberleitungen, Graffiti und Hochhäuser in den Blick. Sind das die Quartiers Nord? Jene berüchtigten Viertel, in der die Arbeitslosigkeit bei 40% liegt, die Polizei machtlos und die Jugend ohne Perspektive ist? Es ruckelt und knarzt, der Boden unter unseren Füßen schwankt, dann kündigt die Lautsprecheransage die Ankunft im Gare de Saint-Charles an. Der Zug kommt mit einem Seufzer zum Stehen, der Knopf blinkt, die Türen springen auf und für uns beginnt das Abenteuer Marseille. 

Marseille, Bahnhof Saint-Charles, 2024 © Anna Albrecht

Marseille, die zweitgrößte Stadt Frankreichs, die alte Hafenstadt am blauen Golf. Wie stelle ich sie mir vor? Dieses Marseille, das die Liste der gefährlichsten Städte Europas anführt? Deren Name zu oft in einem Atemzug mit Bandenkriminalität, Rassismus, Gewalt und Drogenhandel fällt. Die Quartiers Nord gelten ja geradezu als Synonym für tödliche Schießereien und zerstörerischen Drogenkonsum. Wie wird es sein, dieses Marseille? Zügig laufen wir den Bahnsteig hinunter und ich presse instinktiv Lederbeutel mit Portemonnaie und Smartphone eng an meinen Körper, man weiß ja nie und ich will auf alles gefasst sein. Daraus wird nichts. Denn als wir aus der Bahnhofsvorhalle treten, empfängt uns die Stadt mit offenen Armen, ein atemberaubender Blick über Marseille, keine Spur von dunklen Machenschaften und finsteren Gestalten. Stattdessen ein dichtes Häusermeer, das uns zu Füßen liegt, sich in der mediterranen Hügellandschaft wie ein Baby in den Armen seiner Mutter wiegt. Und hinten am Horizont ahnt man schon das Meer, den alten Hafen. Marseille, die raue Schöne, zeigt sich bei meiner Ankunft von ihrer besten – von ihrer Schokoladenseite.

Marseille, Bahnhofsvorplatz, 2024 © Anna Albrecht

Ich kann kaum fassen, wie blau und lichterfüllt sich der Himmel über uns wölbt. Keine Wolke und kein Vogel trüben seine Klarheit, als hätte der von der Farbe Blau so besessene Maler Yves Klein die Hand mit im Spiel gehabt. Hier in Marseille begreife ich, wovon er träumte, der französische Maler aus Nizza, der sein eigenes Blau kreierte, weil ihm kein gekauftes gut genug war (das IKB, das International Klein Blue, gibt es übrigens noch immer, allerdings mit etwas veränderten Inhaltsstoffen). Kein Wunder also, dass auch der erste Milchkaffee in dem kleinen Bistro gegenüber des Bahnhofs einfach nur himmlisch schmeckt.

Himmel über Marseille, 2024, © Archiv Anna Albrecht

Jetzt bin ich hellwach und nun geht’s los. Der Weg zu unserem ersten Ziel, dem Vieux-Port, das ist der alte Hafen von Marseille, führt durch schmale Gassen, über schattige Plätze und lauschige Treppen, an dunklen Winkeln und blätternden Hausfassaden vorbei, kreuz und quer durch das einstige Gründungsviertel von Marseille, das „Panier“.

Wegweiser Marseille 2024 © Archiv Anna Albrecht

Es ist traditionell der Wohnort der Einwanderer, Afrikaner, Korsen und Italiener, inzwischen haben sich hier auch viele Künstlerinnen und Künstler niedergelassen. Seit gut zehn Jahren ist Le Panier im Wandel begriffen, wird gentrifiziert, aber noch immer hat es im Großen und Ganzen seinen authentischen Charakter bewahrt, an vielen Stellen geht es fast dörflich zu und man fragt sich tatsächlich, wo ist die Metropole geblieben? Es geht vorbei an prachtvollen Graffitis und intimen Ateliers, an zahllosen Bars und Cafés, an Läden mit Waren, die von alltäglich, über Bio bis Exotik alles zu bieten haben.

Marseille, Viertel Le Panier 2024, © Archiv Anna Albrecht

Neugierig stecken wir unsere Nasen in den Hof der „Vieille Charité“. Das ehemalige Armenhospital wurde 1671-1749 nach den Plänen des in Marseille geborenen Baumeisters Pierre Puget erbaut. Und obwohl die große Anlage erst nach seinem Tod vollendet wurde, zeigen ihr mehrgeschossiger Arkadenhof und die ellipsenförmige Kapelle, dass der Architekt nicht nur italienische Luft geatmet, sondern eingesogen hat. Woher sonst käme die auf französischem Boden so rare schwingende Barockarchitektur im römischen Stil?

Marseille, La Vieille Charité, Kapelle, 2024 © Archiv Anna Albrecht

Heute beherbergt „La Vieille Charité“ die Museen der Stadt Marseille, sie ist Kultur-, Recherche- und Veranstaltungszentrum. Wer keine Zeit für die Museen hat, sollte trotzdem einmal die Treppe zu den Arkadengängen hinaufsteigen, den Hof umrunden und sich an den wunderschönen Ein- und Ausblicken erfreuen: das barocke Marseille ist stattlich und elegant. 

Marseille, La Vieille Charite´, Arkadenhof, 2024 © Archiv Anna Albrecht

Gut zehn Minuten später stehen wir schon am Vieux-Port am Hafenbecken. Ist das der Ort, von dem Paul Klee und August Macke nach Tunis aufbrachen, damals im Frühjahr 1914? Die Sonne strahlt, das Wasser glitzert, der Aperol perlt, aber von Paul Klee und August Mackes Marseille keine Spur. Dafür jede Menge Touristen und alles, was zum üblichen Hafentourismus dazu gehört – für meinen Geschmack zuviel der Hochglanzatmosphäre. Sind das die Vorboten der olympischen Spiele, deren Segelwettbewerbe hier stattfinden werden? Nein, als Marseille im Jahr 2013 europäische Kulturhauptstadt wurde, hatte es sich schon kräftig ins Zeug gelegt. Den von der Altstadt durch eine mehrspurige Straße abgetrennten Hafen hatte es sich zurückerobert, um einen neuen Stadtraum zu gestalten. Gleichzeitig begann die Sanierung des alten Gründungsviertels.

Marseille, Vieux-Port, 2024 © Archiv Anna Albrecht

An die Stelle der alten Bootshäuser rückten Neubauten, zum Beispiel das MUCEM (Musée des Civilisations de l'Europe et de la Méditerranée), ein moderner Quaderbau aus Glas und Beton von dem französischen Architekten Rudy Ricciotti. Der funkelnde Museumssolitär behauptet hier, wie er es auch überall anders getan hätte, seinen Platz, passt oder eben nicht - das ist Geschmacksache. Dazu gesellt sich auch ein neues Ausstellungsgebäude, die sogenannte Villa Méditerranée, die mit einem 40 Meter langen Ausleger samt Aussichtsplattform um Aufmerksamkeit ringt, entworfen von dem italienischen Architekten Stefano Boeri. Die Hauptattraktion der Flaneure ist aber wohl der Schattenspender oder Regenschutz, je nachdem, der direkt am Hafenbecken seinen Platz hat und aus dem Büro des englischen Stararchitekten Norman Foster & Partners stammt. Auf acht Pfosten schwebt in sechs Metern Höhe eine Spiegelfläche aus hochglanzpoliertem Edelstahl, die alles reflektiert, was sich darunter und drumherum bewegt, amüsiert, inszeniert: Menschen und Stimmungen, Leben, Luft und Licht sowie das Glitzern des Wassers.

Marseille, Vieux-Port, Spiegelpavillon Norman Foster&Partners, 2024 © Archiv Anna Albrecht

Wir schlendern hierhin und dorthin, laufen unter dem Spiegelschirm durch, machen Faxen und Fotos, aber dann zieht es uns doch magisch zurück in die Gassen der Altstadt. Jetzt geht es hoch über schmale Brücken und schmale Treppen, die so kunstvoll gestaltet sind,

Marseille, Treppe zum Cours Julien La Plaine, © Archiv Anna Albrecht

dass man sich allein hier schon Stunden aufhalten könnte, um sich auf die Stimmen der Bewohnerinnen und Bewohner einzulassen.

Marseille, Treppe in La Pleine, 2024 © Archiv Anna Albrecht

Wir überqueren den heiteren Cours Julien, wo uns malerische Fassaden und viele junge Leute begegnen. Der Platz ist auch bekannt für seine Märkte, darunter ein wöchentlicher Bauernmarkt, auf dem regionales Gemüse und Obst verkauft wird.

Marseille, © Archiv Anna Albrecht

Schließlich kommen wir zu einem riesigen Platz, der den Namen des bekannten französischen Sozialpolitikers und Denkers Jean Jaures trägt. Hier oben tobt der volle Alltag in seinen ganzen Farben und Facetten. Kinder, Mütter und Väter, Paare, Freundinnen und Freunde, fußballspielende Jungen und Mädchen jeden Alters, Studenten und Künstlerinnen, Rand- und Protestgruppen: sie alle kommen hier zusammen – für einen flüchtigen Moment oder eine kleine Pause vom anstrengenden Leben.

Marseille, La Plaine, Place Jean Jaures © Archiv Anna Albrecht

Es brummt und rumort wie in einem Braukessel, das Gemurmel einer vorwiegend jungen bunten Gemeinschaft, die sich hier Gehör verschafft. Ob Lust oder Frust, äußern darf man sich hier offenbar mit allen Mitteln: gesprayt, getrommelt, getanzt, gespielt, gesprochen – politische Kundgebung, kultureller Aufruf, Lebensweisheiten in Hülle und Fülle. Der Platz spiegelt die Sehnsüchte und Gedanken seiner Darsteller, mehr als es jede funkelnde Neubaufassade im Hafen je könnte.

Marseille, Place Jean Jaures, 2024 © Archiv Anna Albrecht

Lange sitzen wir in dem kleinen Café am großen Platz, atmen den Zigarettenrauch der jungen Frauen am Nebentisch, spielen den Kindern auf dem Sportplatz ihren verirrten Fußball zurück, lassen uns von dem Leben der anderen mitnehmen. Worüber denken die Marseilleserinnen und Marseilleser nach? Was ist ihnen wichtig, was wünschen sie sich für ihre Kinder für ihre Stadt? Mag sein, dass sich hier oben auch viele Touristen tummeln, aber sie fallen nicht so ins Gewicht, hier lebt man nicht für sie, sondern für sich. Das Kommen und Gehen hat soviele Stimmen wie Bewohner, hinterlässt Spuren, stellt Fragen, gibt Antworten. Das ist es, was sich hier oben zwischen den besprühten Fassaden und beklebten Straßen abspielt und das ist anders als am touristischen Hafen der Moderne. Ist das hier das wahre Marseille? Was heißt überhaupt wahr? Marseille hat viele Gesichter, viele Stimmen und sicher auch viele Wahrheiten.

Marseille, Place Jean Jaures, 2024, © Anna Albrecht

Metropole und Dorf, Sehnsuchtsort für die einen, Tatort für die anderen. Es ist eine Stadt, in der es perlt und brodelt wie in einem Cocktail, der am Gaumen prickelt und doch einen bitteren Nachgeschmack hat. Wir müssen uns von Marseille verabschieden, noch ehe wir diese Stadt richtig kennengelernt haben. Aber es gibt ein nächstes Mal, soviel steht fest. Jetzt geht die Fahrt weiter nach Aix-en-Provence und auf dem Weg dorthin ziehen sie im Norden der Metropole wieder an uns vorbei, die kalten grauen Hochhausghettos der Quartiers Nord, der Schauder zieht mit wie ein langer Schatten trotz des blauen Himmels.

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