PARIS 75001 ODER: MIT DEM GLOCKENSCHLAG IN DIE VERGANGENHEIT

Paris, Blick auf das “Hallenviertel” mit der Bourse de Commerce (Kuppel links)und Saint Eustache (Kirche rechts) © Archiv Anna Albrecht

Dieses Mal wohnen wir im ersten Arrondissement, Postleitzahl 75001. Im „Hallenviertel“ schlägt das Herz von Paris und das schon seit über 1200 Jahren. Damals begründete Ludwig VI. einen Markt, um seine Stadt zu fördern. Bäcker, Metzger, Fischer verkauften hier ihre Ware und das mit viel Erfolg – die Stadt gedieh, der Markt wuchs und veränderte über die Jahrhunderte mehrfach sein Gesicht. Heute befindet sich an seiner Stelle ein riesiges Einkaufs- und Freizeitzentrum, „La Canopée“, oder geläufiger, das „Forum Les Halles“. In seinem Bauch steckt der größte unterirdische Untergrundbahnhof, Châtelet-Les-Halles. Ein ziemlich unübersichtliches Gedärm an Rolltreppen, Fließbändern und Zugängen.

Paris, Les Halles, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Und genau hier, um die Ecke von „Les Halles“ werden wir die nächsten Wochen wohnen? Aufwachen und Arbeiten, Einschlafen und Einkaufen? So wie alle anderen im Quartier? Ich kann es kaum fassen und merke, wie mich der jahrhundertealte Atem des Ortes anweht, geradezu beflügelt. Als wir endlich im Hinterhof unseres zukünftigen Wohnortes vor der Wahl stehen, Fahrstuhl oder Treppe, verkünde ich gleichmal vorlaut, dass ich die Stufen nehme. Fahrstuhlfahren ist so oder so nicht meins und dieser hier scheint mir eine besonders enge und klapprige Ausgabe zu sein.

Paris, März © Archiv Anna Albrecht

Los geht’s! Hinein in den engen Treppenturm, 6 Stockwerke, 96 Stufen und mit jedem Treppenabsatz ein bisschen mehr Paris: alte Gas- oder Wasseranschlüsse, gusseiserne Gitter an den Fenstern und dahinter gähnt ein tiefer Schlund. Irgendwann geht endlich eine der grünen Wohnungstüren auf.

Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Ich bin am Ziel – 40 qm in den Dächern von Paris! Still, hell und über den Mauern lacht sogar ein Stück Himmel.

Als ich Glocken läuten höre, schaue ich unseren Vermieter ungläubig an. Bin ich „nur“ in Paris oder schon im Himmel? Der schmunzelt und erklärt, dass sich hinter der Brandmauer nicht nur die Feuerwehr verbirgt, sondern dass dort auch die Kirche des Viertels, Saint Eustache, liegt. Sie sei berühmt für Orgel und Konzerte.

Auf den Boden der Tatsachen bringt mich nur eine einzige Vorstellung, dass ich diesen zauberhaften Ort irgendwann wieder verlassen muss. Aber jetzt erstmal kurz ausstrecken, auspacken und dann gehe ich das Wohnviertel erkunden. Also in 96 Schritten zurück auf die Erde – der Aufprall ist laut, denn kaum trete ich aus der Stille des Hauses, füllt das Raunen der Großstadt wieder meine Ohren: Hupende Autos, ein heulendes Kind, das metallische Klackern von Gerüststangen – vor meiner Nase wird gerade ein Markt abgebaut.

Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Ich bin unschlüssig, in welche Richtung ich gehen soll, da ertönen wieder die Glocken – sanft und tiefgründig durchwehen ihre Klänge das Viertel. Ihnen scheinen Lärm und Zeit nichts anhaben zu können. Ich folge ihrem Ruf und begebe mich in diese Richtung. Die Kirche Saint Eustache zeigt sich auch gleich an der nächsten Straßenecke, denn sie überragt die anderen Häuser, so tief verwurzelt ist sie an diesem Ort, an dem sie seit dem Anfang des 13. Jahrhunderts ein Zuhause hat. Damals erhielt die kleine Pfarrkirche die Reliquien des römischen Märtyrers Eustachius und damit ihren Namen.

Paris, Saint Eustache, Seiteneingang, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Das, was ich an Architektur sehe, als ich das hohe Kirchenschiff betrete, bringt mich ganz schön ins Schwitzen (nicht vergessen, ich bin als Kunsthistorikerin immer in der Datierungspflicht). Der Raum hat auf jeden Fall gotische Proportionen, steckt aber eindeutig in einem Kleid der Renaissance. Hat hier ein Stil den anderen abgelöst? Schließlich hat Paris in Sachen Mode doch immer die Nase vorn, oder was ist hier passiert? Ich erfahre einiges zur Baugeschichte an der Schauwand im Westen der Kirche. Es war König François I., der nicht nur den Markthallen vor der Tür ein neues Äußeres verpasste, sondern er legte auch den Grundstein für diesen Kirchenbau und zwar 1532. Aber, wie so oft, reichte das Geld mal wieder nicht aus und so wurde die Saint Eustache erst rund 100 Jahre später halbwegs fertig und geweiht. Nun gut, Saint Eustache ist also ein Bau am Übergang von Gotik zu Renaissance, aber wen interessiert das eigentlich? Hauptsache ist doch, dass der Auftritt gelingt und das tut er: der Raum wirkt heiter, hell und harmonisch.

Paris, Saint Eustache, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Neugierig streife ich durch die Schiffe und staune über die Ausstattung, besonders der Seitenkapellen: da reihen sich die Werke namenhafter Künstler aus Frankreich und Italien nur so aneinander. Es sind die Handwerker des Marktes, die sich hier ein Denkmal gesetzt haben, Metzger, Bäcker. Natürlich, Saint Eustache war und ist ja der religiöse Mittelpunkt des Viertels. In ihrem Schatten wurde schon immer gehandelt und verkauft - auch heute noch.

Aber dann entdecke ich in einer Kapelle ein prunkvolles Grabmal aus Mamor und Gold. O la la!

Paris, Grabmal Jean Baptiste Colbert, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Das hat sicher nichts mit Markt und Handwerk zu tun, oder? So pompös und pathetisch wie das Monument daherkommt, hat es sicher ein wohlhabender Adliger bestellt. Und siehe da, es ist der clevere Finanzminister Ludwigs XIV., Jean-Baptiste Colbert, der hier in vollem Ornat um Gnade fleht. Dabei beteuern zwei Damen seine Tugend – Glaube links, Überfluss und Hingabe rechts. Mir ist sofort klar ist, dass hinter dieser Inszenierung nur einer der ganz Großen stecken kann.

Paris, Gare du Nord, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Es sind es sogar gleich zwei Heroen der französischen Hofkunst, die hier zusammenwirkt haben: der Bildhauer Antoine Coysevox führte nach einer Zeichnung seines Malerkollegen Charles Le Brun das Grabmonument aus. Beide Künstler rangierten ganz oben in der Liste der auserwählten Maler und Bildhauer, die im Dienst des Sonnenkönigs standen. Übrigens, der König selbst empfing seine Erstkommunion in Saint Eustache. Uff! Was für Geschichten! In dieses Kapitel gehört zum Beispiel auch, dass die Mutter von Wolfgang Amadeus Mozart, Anna Maria Walburga Perth, auf dem Friedhof von Saint Eustache beerdigt wurde. Sie hatte ihren genialen Sohn auf der Reise nach Paris begleitet, weil Vater Leopold keinen Urlaub bekam, dabei erkrankte sie und verstarb völlig überraschend am 3. Juli 1778. Soviele begabte Künstler und Persönlichkeiten, die sich an einem Ort versammeln und all das stürmt schon gleich am ersten Tag auf mich ein. Das ist mal wieder typisch Paris, denke ich und strebe Richtung Ausgang. Für heute ist es erstmal genug.

Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Draußen auf dem Platz tauche ich dann dankbar in die Menge der Vorübereilenden, Wartenden und Verweilenden ein. Wie wohl das tut. Könige, Kirchenmänner und Künstler haben den Markt begründet, die Kirche gestiftet und den Platz errichtet.

Aber es sind die Menschen des Viertels, die die herrschaftlichen Pläne umgesetzt haben und sie mit Leben füllen und das schon seit Jahrhunderten. Sie sind das wahre ungeschminkte Gesicht des quirligen Hallenviertels, das in der Kirche Saint Eustache seinen ganz selbstverständlichen Mittelpunkt hat.

Paris, Saint Eustache, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Als Reisende darf ich nun mitten unter ihnen sein, horche auf ihre Stimmen und lausche ihren Geschichten.

Paris, Henri de Miller, Ecoute, 1986 © Archiv Anna Albrecht

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