BIENVENUE À PARIS

Paris, Gare de l' Est, März 2023 © Archiv Anna Albrecht

Der Zug quietscht, der Knopf blinkt, die Türen springen auf. Koffer raus, Gleis runter, rein ins Getümmel. Der geschäftige Gare de l’ Est mitten im 10. Arrondissement von Paris empfängt mich mit den üblichen Bahnhofsgeräuschen, aber auch mit den Klängen von Yann Thiersen. Es ist, als wollte mich der französische Komponist und Musiker gleich in die zauberhafte Welt seiner Amelie entführen. Tatsächlich ist es in den Pariser Fernbahnhöfen inzwischen gang und gäbe, dass ein Klavier zum Spielen auffordert, jedermann darf ran! Eine schöne Geste mit Wohnzimmeratmosphäre, die den eiligen Strom der Reisenden unterbricht, den einen oder anderen kurz innehalten und zuhören lässt.

Paris, Gare de l’Est, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Immerhin sind es über 40 Millionen Besucherinnen und Besucher, die der Gare de l’ Est in den Osten von Frankreich, nach Luxemburg, in die Schweiz oder bis nach Deutschland bringt. Und früher? Hieß der “Ostbahnhof” nach seiner Hauptachse “Gare de Strasbourg” und diese Bedeutung lässt sich auch heute noch an der Fassade des Gebäudes nachvollziehen: Auf dem Giebel thront ein illustres Paar, eine Allegorie – der weiblichen Seine und des männlichen Rheins.

Paris, Gare du Nord, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Ein Bahnhof steckt voller Geheimnisse und Geschichten: So fuhr am 4. Oktober des Jahres 1883 der erste Orientexpress aus dem Gare de l’ Est ab - eine Vergnügungsreise für Wohlhabende. Dabei liegt der nächste Fernbahnhof, der Gare du Nord, doch nur um die Ecke, genau genommen nur neun Gehminuten entfernt. Wieder so ein Gigant aus Eisen und Glas.

Paris, Gare du Nord, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Tatsächlich sind beide Bahnhöfe rechte Prachtexemplare ihrer Art und stammen aus einer Zeit, in der das Reisen mit der noch taufrischen Erfindung „Eisenbahn“ von vielen nicht nur als pfeilschnell (ich wünschte, das könnte man von der Deutschen Bahn auch behaupten), sondern als unheimlich, ja geradezu bedrohlich empfunden wurde. Denn die neuen Reisegefährten rumpelten und ruckelten um die Wette, wenn sie in die dampfenden Bahnhöfe einfuhren.

Paris, Gare du Nord, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Konnte man den zischenden Ungetümen trauen? Würden sie einen heil an das gewünschte Ziel bringen? Auf jeden Fall schien die Eisenbahn ein wunderliches Geschöpf zu sein, das einem den Kopf verdrehte, den Blick auf die Landschaft und das Leben vernebelte – radikal veränderte. Den Menschen damals erging es vielleicht ähnlich wie uns heute, wenn sich ein ungewisses unbehagliches Gefühl einstellt, sobald es um unser Leben mit KI geht. Heinrich Heine bemerkte dazu so düster wie hellseherisch: „Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, es bleibt uns nur noch die Zeit übrig“. Die Bahnangst ging um und doch war der Fortschritt nicht mehr aufzuhalten, die gute alte Pferdekutsche hatte bald ausgedient, alles, was übrig blieb ist die Rechnung in Pferdestärken. Ehrensache, dass Paris, die pulsierende Stadt der Moderne, gleich mit sechs Kopfbahnhöfen an den Start ging, hypermoderne Bauwerke aus Gußeisen und Glas, die nicht nur ganz Paris, sondern alle Reiselustigen dieser Welt in Staunen versetzte.

Paris, Gare du Nord, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Diese Bauten ging auf das Konto des reformwütigen Napoleon III. und seines eifrigen Präfekten Eugène Haussmann. Der berühmt berüchtigte Jurist, der sich in einen Stadtplaner verwandelte und Paris neu erfand: Er schlug breite Achsen durch enge Stadt, zog Wohnblock um Wohnblock empor, großzügig und sauber, legte Wasserleitungen in die Häuser, baute Hospitäler, Theater, Markthallen und – Bahnhöfe: die Umgestaltung von Paris ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verlief kompromisslos, brachial, modern und prägt bis heute unser Bild von der französischen Hauptstadt. Von der “Haussmanisierung” erzähle ich ein anderes Mal, denn jetzt habe ich längst die neue Halle des Bahnhofs durchquert und tauche in dem Strom unter, der in den Untergrund führt, wo schon die nächste Erfindung der Pariser Moderne wartet, die legendäre Metro.

Paris, Boulevard Strasbourg, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Eröffnet zur Weltausstellung im Jahr 1900 sind die von Hector Guimard entworfenen Eingänge der Pariser U-Bahn kaum mehr aus dem Stadtbild wegzudenken. Aus Glas und Eisen schießen auch heute noch die Nachkömmlinge jener zarten Gewächse wie Pflanzen aus dem Boden und recken ihre orange funkelnden Blüten über den Auf- und Abgängen der Untergrundbahn aus. Guimards Erfindung war nicht immer so gern gesehen wie heute.

Ich ziehe jetzt meinen hellblauen „Passe Navigo Easy“ aus der Tasche, halte ihn über den Scanbereich des Automaten und schiebe dann meinen Koffer blitzschnell durch die Tür, bevor ihre verflixt flinken Flügel wieder zuschnappen (nach einigen schmerzhaften Erfahrungen bin ich inzwischen in dem Stadium „gewusst wie“ angekommen). Nun schlägt mir die warme Metro-Luft entgegen und viele müde Hände betteln nach Münzen. Spätestens jetzt habe ich begriffen: ich bin zurück in Paris – elegante, erbarmungslose Stadt:

Paris, Gare du Nord, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

Fashion Week zweimal im Jahr, Olympische Spiele 2024 und

Paris, Gare du Nord, März 2024 © Anna Albrecht

immer noch zahllose Menschen, die auf der Straße leben, während Pendler, Flaneure und Touristen routiniert und verschämt an ihnen vorbeiströmen. Ein Wettlauf mit der Zeit?

Paris, März 2024 © Archiv Anna Albrecht

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PARIS 75001 ODER: MIT DEM GLOCKENSCHLAG IN DIE VERGANGENHEIT

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EIN ZWEITER FRÜHLING IN PARIS