“LESEN ÖFFNET TÜREN” – ZUHÖREN AUCH!

Ich sitze an meinem Schreibtisch, stapelweise Bücher, Papiere, Becher mit angetrockneten Kaffeerändern um mich herum und Gedankentürme, die ebenso schnell himmelwärts stürmen wie sie ins Schwanken geraten. Der Einstieg in ein neues Sachbuchprojekt hat immer etwas Gieriges, Rauschhaftes und ist zugleich chaotisch, bedrohlich. Es sind die schönsten, die fruchtbarsten, aber auch die empfindlichsten Momente eines neuen Buchprojektes, wenn das neue Wissen den Horizont flutet und man verzweifelt darum ringt, es zu bändigen.

Gustave Courbet, Der Verzweifelte, 1844-45 private Sammlung @https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8f/Gustave_Courbet_-_Le_Désespéré_%281843%29.jpg?uselang=de

Wird es mir gelingen, den nötigen Überblick zum Thema zu erlangen, um eine sinnvolle Ordnung zu finden, eine spannende Fragestellung zu entwickeln, dem Schreibprojekt eine eigene Stimme zu geben? Mit anderen Worten: geht der Samen meiner Begeisterung auch auf? Wieviel Pflege, Dünger und Erziehungsarbeit wird es dieses Mal kosten? Im Moment stecke ich jedenfalls ziemlich tief drin im Wissensschlamassel und frage mich: Warum kocht hier im Haus eigentlich keiner einen Kaffee? Müsste ich nicht längst die Wäsche aus der Trommel holen? Oder die Blumen gießen? Fluchtgedanken, wie wir sie alle kennen. Immerhin leuchtet jetzt eine Nachricht auf meinem Smartphone auf. Dankbar greife ich nach dem Strohhalm. „Hallo Anna, wir brauchen in der Jury des Vorlesewettbewerbs noch ein Mitglied. Hast du Lust und Zeit einzuspringen?“ Mein Herz macht einen Satz, natürlich habe ich Lust – große sogar. Alles ist gerade besser, als sich durch den Schlamassel zu kämpfen. Also schlage ich meinem Kalender auf, sehe sofort, dass der angefragt Termin noch frei ist und sage zu. Jetzt bin ich also frisch gebackenes Jurymitglied beim diesjährigen Bamberger Stadtentscheid im bundesweiten Vorlesewettbewerb und frage mich natürlich sofort, was ich dazu wohl an Wissen wieder wissen muss…

Stadtbücherei Bamberg Februar 2024 @ Archiv Anna Albrecht

Neugierig öffne ich die Mail, die alle Informationen zu dem Lesewettbewerb beinhaltet. Immerhin wird dieser Wettbewerb schon seit 65 Jahren vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels ausgetragen. Und die Stadtbücherei in Bamberg, die seit 1961 besteht, ist seit über 60 Jahren als Veranstalterin dabei. Es ist also eine traditionsreiche Angelegenheit, die sich sehen lassen kann: Die Handreichung mit den Bewertungskriterien der Jury ist klar, bündig und übersichtlich gestaltet. Glück gehabt! Jetzt freue ich mich noch mehr auf diesen Ausreißer vom gerade recht mühsamen Schreibtischleben und bin neugierig, wie die Schülerinnen und Schüler aus ihren Bücher vorlesen werden.  

Ausschnitt Infoblatt zu den Bewertungskriterien des Vorlesewettbewerbs 2023/2024 @ Archiv Anna Albrecht

Kaum dass ich den Flur des Vortragssaals in der Stadtbücherei betreten habe, schlagen mir schon die Wogen von Anspannung, Aufregung und Vorfreude entgegen. In einigen der jungen Gesichter meine ich dieselben Spuren von Unsicherheit zu lesen, wie sie mir aus meiner eigenen Schulzeit noch so wahnsinnig vertraut sind. Ich kann sie förmlich riechen. Aber das routinierte Team der Stadtbücherei hat alles im Griff und die Leiterin findet genau die richtigen, herzlichen Worte, um diese Wogen zu besänftigen. Dann wird es ernst. Kaum sind die letzten Töne der Geige verklungen, ruft die Bibliothekarin nach und nach die Kandidatinnen und Kandidaten auf die Bühne. Schon wie sie nach vorn laufen und hinter dem Pult Platz nehmen, das spricht Bände. Die einen wachsen über den Tisch und sich selbst hinaus, die anderen ringen zu lange um ihren Platz. Es folgt eine kurze Vorstellung und dann der Griff zum Buch - wie nach einem Rettungsring. Es sind drei Minuten, in denen die Leserin ihren Held zum Leben erwecken darf. Drei Minuten, in denen sie den packendsten Moment der Geschichte lebendig werden lässt. Drei Minuten, in denen sie ihrem Roman ihre ganz persönliche Stimme schenkt. Nicht zuletzt sind es genau dieselben drei Minuten, in denen wir als Mitglieder der Jury diese Vorstellung bewerten müssen.

Atemlos lausche ich den Worten der Lesenden, achte auf Tempo, Betonung und Aussprache, mache mir Notizen zur Dynamik, Stimmung und Textauswahl. Gut, dass ich mir die Kriterien vorher eingeprägt habe, das macht die Einschätzung leichter. Am Ende habe ich zu meinem eigenen Erstaunen zwei ganz klare Favoriten. Aber erst, als wir in kleiner Runde hinter geschlossenen Türen sitzen und unsere Eindrücke austauschen, diskutieren, wird mir klar, welches Kriterium mich am meisten bei der Bewertung geleitet hat. Die wesentliche Frage lautet doch: Ist es dem Vorleser oder der Vorleserin gelungen, eins zu werden mit den Gedanken, Worten und Taten seines oder ihres Helden? Oder klaffte hier die verhängnisvolle Lücke der Verstellung? Wer sich nicht komplett in die Heldenfigur hineinfühlt, in ihre Geschichte fallen lässt, sich nicht hineinbegibt in seine oder ihre Ängste und Aufgaben, der schafft ungewollt eine Distanz zum Zuhörer, die dieser, geübt oder nicht geübt, sofort spürt. Ist diese Verwandlung aber gelungen, ist der Rest der Einschätzung eine Sache des Geschmacks: Ob jemand nachlässig oder elegant liest, unaufgeregt oder leidenschaftlich, zart oder kernig, das hängt ganz vom Charakter des Vorlesenden ab. In der kleinen Runde werden wir uns rasch einig und können kurze Zeit darauf die glückliche Stadtsiegerin küren. Was für rasante zwei Stunden, in denen ich viel gelernt habe - über die anderen und über mich selbst.

Stadtbücherei in Bamberg, Erdgeschoss Februar 2024 @ Anna Albrecht

Noch ganz unter dem Eindruck des Wettbewerbs, laufe ich die Treppe hinunter zum Ausgang und habe ganz plötzlich das Bedürfnis, noch einen Moment in der Bücherei zu verweilen. Automatisch zieht es mich ins Erdgeschoss, dorthin, wo Sofa und Sitzsäcke warten. Ich lasse mich in einen von ihnen fallen und atme erstmal tief durch.

Stadtbücherei Erdgeschoss Februar 2024 @ Anna Albrecht

Umgeben von den Kinderbüchern vieler Kolleginnen und Kollegen fühle ich mich geborgen. Meine Augen wandern über die bunten Buchrücken, die hier eng an eng stehen und schon habe ich die Stimmen ihrer Heldinnen und Helden im Ohr. Es ist das vertraute Raunen einer großen bunten Welt, in der wir einander zuhören und in der wir alle willkommen sind.

Begrüßungsposter in der Bamberger Stadtbücherei Februar 2024 @ Archiv Anna Albrecht

Und auf einmal weiß ich ganz genau, welche Stimme mein neues Buchprojekt bekommen wird – die Tür hat sich geöffnet, nun kann ich beruhigt wieder an die Arbeit gehen.

Eingangsbereich der Stadtbücherei Bamberg @ Archiv Anna Albrecht

Lesen öffnet Türen! Nach diesem Motto handelt das Team der Stadtbücherei in Bamberg und das mit einem großartigen Engagement. Für mich beginnt das schon an der Eingangstür. Die Drehtür wirft mich für einen klitzekleinen Moment aus meinem gewohnten Schritt, macht mir klar, dass ich einen besonderen Ort betrete. Einen Ort, an dem wir uns in Büchern verlieren dürfen und austauschen können. Ein Ort, an dem wir uns geborgen fühlen, Antworten finden, groß werden und Antworten geben. Ein Ort, von dem ich mir noch viel mehr auf dieser Welt wünsche.

Jean-Honoré Fragonard: Lesendes Mädchen, um 1769, National Gallery of Art, Washington D.C. Fragonard@ https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/b/bc/Jean-Honoré_Fragonard_018.jpg/958px-Jean-Honoré_Fragonard_018.jpg?20160226212840

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