VON DEM UNGEBETENEN “ZWISCHEN–DEN-JAHREN–GAST”

Dezember 2023 © Archiv Albrecht

Weihnachten hat sich noch nicht ganz verabschiedet, da steht er schon auf der Schwelle, tritt ungefragt durch die Tür ins Wohnzimmer und macht es sich bequem – im besten Sessel, versteht sich.

Dezember 2023 © Archiv Anna Albrecht

Dort sitzt er dann (recht selbstzufrieden, wie ich finde) und schaut sich um. Schon sehe ich, wie er die Stirn runzelt, den Mund zu einem schiefen Lächeln verzieht, die Augenbraue zucken lässt. Dann fängt er an, Fragen zu stellen und nachzubohren, wie es so war im letzten Jahr und was ich mir fürs nächste vorgenommen habe. Er mischt sich ein und lässt keinen Widerspruch gelten, bis er plötzlich die Richtung vorgibt. Er ist ein echter Plagegeist, dieser ungebetene Gast zwischen den Jahren und wer ihn kennt, der wird mir zustimmen. Denn er will alles wissen, kann alles besser und schafft es jedes Jahr aufs Neue, mich in Verlegenheit zu bringen. Am Ende stolpere ich hastig und mit gemischten Gefühlen ins neue Jahr.

Dezember 2023 © Archiv Anna Albrecht

In diesem Jahr war alles anders. Es begann traurig mit einem schweren Abschied, fand seine stürmische Fortsetzung auf meinen vielen Reisen und entpuppt sich nun, am Ende des Jahres, als ein besonders wertvolles Jahr – neuer Horizonte, erfrischender Begegnungen und überraschender Erkenntnisse. Denn es war auch ein Jahr, in dem ich mir etwas genommen habe, was im normalen Familien- und Berufsalltag immer zu kurz gekommen, ja fast untergegangen ist, Zeit zum Nachdenken. Zeit, um in die Tiefe zu steigen, in der Vergangenheit zu wühlen, Schönes, Trauriges und Lästiges an den Tag zu holen, Beschwerliches abzuwerfen, Altes neu zu entdecken. Wie wohltuend und befreiend das ist, merke ich jetzt. Und es macht mir, die nicht sehr mutig ist, Mut für das, was kommt. Niemand kann in die Zukunft sehen, an der Zukunft schrauben, aber verlässliches Handwerkszeug hilft.

Dezember 2023 © Archiv Anna Albrecht

So gut, dass ich heute am Silvesterabend in kindischer Vorfreude auf meinen ungebetenen ,Zwischen-den-Jahren- Gast’ warte. Dem werde ich es heute mal so richtig zeigen. Ich werde ihm den Sessel zurechtrücken und ihn freundlich bitten, Platz zu nehmen. Und ja, ich werde ihn schauen lassen und geduldig abwarten. Und wenn es sein muss, stehe ich ihm Rede und Antwort, werde meine Gedanken mit ihm teilen. Natürlich wird er immer noch Unordnung vorfinden, Ungereimtheiten, Widersprüche, aber er wird mich nicht mehr in die Enge treiben können. Mein Leben, so wie es ist, fühlt sich gerade aufrichtig an - in Ecken und Kanten, mit jedem Zweifel und auf allen Spuren. Da fällt es mir plötzlich auf. Wo ist er eigentlich mein ungebetener Gast? Er hätte doch längst da sein müssen? Denn meist taucht er auf, sobald in den Supermärkten die Silvesterknaller in den Blick rücken.

Da fällt leise eine Tür zu. Und mir wird schlagartig klar: mein Gast kommt dieses Jahr nicht. Er lässt mich sitzen in meiner ganzen Vorfreude. Natürlich, er hätte ja auch nichts zu runzeln und zu schmunzeln gehabt, nichts zu fragen oder nachzubohren, was mich plagen könnte. Denn dieses Jahr habe ich gründlich aufgeräumt, Fragen gestellt und Antworten gefunden, vorerst! Ich muss nicht ins neue Jahr stolpern, sondern kann ganz gemütlich hineingehen und Platz nehmen - in meinem Leben.

Genau das wünsche ich Euch auch für das nächste Jahr!

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