STILLER MORGEN, HEILIGE NACHT

24. Dezember 2023 © Archiv Albrecht

24.12.2023, 6.15 Uhr, ich bin hellwach, krame in meinen Gedanken und finde nichts – außer Vorfreude. Jetzt schon?

Seitdem ich eine große Familie habe, ist der Morgen des Heiligen Abends eine ziemlich rastlose Angelegenheit: treppauf, treppab, letzte Besorgungen, vergessene Geschenke, tausend Kleinigkeiten im Kopf, große Unruhe im Bauch. Wird alles passen? Erst wenn ich die Bettdecke über den Kopf ziehe, um in einen kurzen erschöpften Mittagsschlaf zu sinken, kehrt allmählich Ruhe ein.

Aber hier, mitten in den Bergen, ist alles anders. Und wenn ich ehrlich bin, begann das schon vorgestern bei der Anreise…

22. Dezember 2023 © Archiv Anna Albrecht

Kurz vor dem Bernardino-Tunnel fuhren wir in eine Winterlandschaft hinein, die uns geradewegs in ein Gemälde Caspar David Friedrichs entführte, in eine zauberhafte weiße Welt voller Geheimnisse: verschneite Almen, hohe Tannen und vernebelte Felsen – wer behauptet, dass Schnee nur etwas für Kinderherzen sei, der irrt gewaltig, finde ich.

Splügenpass 2023 © Archiv Anna Albrecht

Auf der Südseite empfing uns die Sonne und seitdem ist der Himmel über dem Luganer See so ungetrübt blau wie im Sommer, noch dazu ist es ungewöhnlich warm, T-Shirt warm, und das, obwohl der Wind unablässig ums Haus tost, an Fensterläden rüttelt, an den Nerven zerrt wie ein ungebetener Gast.

Aber nun ist es soweit: Heilig Abend 2023 steht vor der Tür. Die anderen schlafen noch. Also schnappe ich mir meinen Early Morning Tee und rücke mir einen Stuhl unter den kleinen Pavillon, von dem aus man in die Welt sehen kann. Ich warte auf den Heiligen Morgen - seltsam, das habe ich noch nie getan.

24. Dezember 2023 © Archiv Anna Albrecht

Im Osten hebt sich die Gipfelkette der Grigna wie ein Schattenriss gegen den Morgenhimmel ab, im Westen liegen Seen und Berge noch im Nachtschlaf. Aus dem Tal dringt leise das Jammern eines Esels empor, ein Vogel singt den Morgen herbei und Tata, die Katze unseres Nachbarn, schleicht mir schnurrend um die Beine. Kurz darauf verschwindet sie blitzschnell im Unterholz (wer weiß, was sie vorhat), der Vogel verstummt. Ich schlinge meine Arme um die Knie, nehme einen Schluck Tee und schaue zum Himmel. Dort sehe ich ihn plötzlich leuchten – den Stern und plötzlich merke ich, dass sich etwas verändert hat: der Wind hat sich gelegt und die Natur hält inne, freut sich wie ich auf den Heiligen Abend. Nie habe ich mich unter der mittäglichen Bettdecke zuhause so wunderbar geborgen gefühlt wie hier zwischen den Bergen, mitten in der großen Natur, wie in einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Stille Nacht – Heilige Nacht, hier ist sie zum Greifen nahe.  

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VON DEM UNGEBETENEN “ZWISCHEN–DEN-JAHREN–GAST”

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… DENN SIE WISSEN, WAS SIE HABEN