LÜBECK: INSELRUNDE TEIL III

Lübeck, Obertrave und Dom 2023 © Archiv Albrecht

Noch immer kein Zeichen von meiner Gastgeberin (ihr erinnert euch, dass ich sie des Ladekabeldiebstahls verdächtige). So geht es für mich weiter auf dem Weg rund um die Lübecker Altstadtinsel – immer am Traveufer entlang, vorbei an den Restaurants, vorbei an dem Anleger für Stadt- und Hafenrundfahrten, immer weiter entlang des Wassers, bis nur noch das Geschnatter der Enten und das ferne Rauschen der Stadt zu hören ist.

Lübeck, Straßenschild, 2023 © Archiv Anna Albrecht

Wie beschaulich es im Südwesten der Altstadtinsel zugeht. Vor den Häusern stehen Tische, Stühle, Bänke – laden zum Klönschnack und Verweilen ein, am Uferstreifen trocknet die Wäsche mit dem Duft von Heckenrosen in der Sonne und nur ab und zu verirrt sich ein unverbesserlicher Autofahrer hierher.

Lübeck, An der Obertrave, 2023 © Archiv Anna Albrecht

Dafür herrscht Hochbetrieb auf der Obertrave: ein Schwan, der wie ein Porschefahrer seine Runden zieht, jede Menge Entenpaare, die die ersten Ausflüge ihrer Kinder überwachen und dazwischen eine Stand Up Paddlerin. Sie gleitetet lautlos durch das Wasser - ein Kinderspiel. Ich schaue dem Treiben eine Weile zu, denn für September ist es ganz schön warm und der Dom liegt weiter weg als ich es in Erinnerung hatte. Naja, kein Wunder, besonders gut stand es nie um das Verhältnis des Bischofs zu seinen Bürgern, immer wieder stritten sie um Rechte und Mitbestimmung, da war der Abstand eine Frage der Vernunft und des Selbstschutzes.

Lübeck, An der Obertrave, 2023 © Archiv Anna Albrecht

Was mir beim Laufen wieder ins Auge fällt, ist die typische geschlossene Blockbebauung, unterbrochen von den Torfluchten, die den Zugang zu Gängen und Höfen gewähren. Offenbar ist das Viertel an der Obertrave ohne größere Kriegsschäden davongekommen. Danach sieht es jedenfalls auf den ersten Blick aus – eine einmalige Kulisse.

Lübeck, An der Obertrave, 2023 © Anna Albrecht

Und wieder sind es lauter „Gruben“ (der Ausdruck leitet sich übrigens von dem Wort Graben ab, hier flossen Regenwasser und Abfälle in die Trave hinunter), an denen ich vorbeilaufe, bis ich schließlich in die Effengrube einbiege. Nach einem sanften Anstieg stehe ich am Dom, genauer gesagt, an seiner nördlichen Flanke. Hier haben die Backsteinmauern Risse, Flicken, Löcher – noch und nöcher. Naja, der Dom ist ja schließlich auch schon uralt, stammt aus den Anfängen der Stadt und feiert in diesem Jahr seinen 850ten Geburtstag! Daher also die dicke rote „Conny“-Schleife am Nordturm. Gegründet hatte den Dom ein alter Bekannter, Heinrich der Löwe. Der Sachsenherzog war ein gewiefter Stratege, hatte den Bischof nach Lübeck geholt und finanzierte auch den Bau seines Doms. Außerdem war Heinrich derjenige, der die Backsteinmode in den Norden holte, denn er kannte das Material von seinen Aufenthalten in Norditalien. Sei's drum, auf geht’s in die heiligen Hallen!

Lübeck, Dom, Lettner mit Triumphkreuzgruppe 2023 © Archiv Albrecht

So hell und freundlich wirkt der Dom auf mich, das mir plötzlich ganz feierlich zumute wird. Dazu tragen auch die Sonnenstrahlen bei, die eben durch das Fenster fallen, kleinste Staubpartikel in glitzernde Perlen verwandeln und den Lettner in himmlisches Licht tauchen. Was ein Letter ist? Die mittelalterliche Schranke, die Mittelschiff und Chor (Priester und Laien) voneinander trennte und sooft der stürmischen Reformation zum Opfer fiel. Der Lübecker Lettner ist nicht vollständig erhalten, aber doch in großen Teilen und er gehört wohl zu den bedeutendsten Kunstwerken, die die Stadt heute noch beherbergt. Es sind seine Größe, der Aufwand der Schnitzereien, aber vor allem auch die farbigen Figuren, die mich begeistern. Gestiftet hat das opulente Werk der berühmt berüchtigte Bischof Albert Krummediek und zwar vor rund 550 Jahren. Damals war Bernt Notke der große Star unter den Bildschnitzern und Malern des Ostseeraums und so wandte sich der prestigehungrige Lübecker Bischof an dessen Werkstatt. Nur Bernt Notke traute er zu, etwas zu schaffen, das seinem Anspruch genügen und seinem Nachruf dienen würde. Und Krummediek ließ es sich etwas kosten - sage und schreibe 2000 lübische Mark bezahlte er für den Lettner. Soviel war in Lübeck noch nie für ein Kunstwerk ausgegeben worden. Bernt Notke machte sich an die Arbeit und 1477 waren Lettner und Triumphkreuz vollendet: 17m hoch mit rund 80 Figuren mit jeder Menge Dekoration. Alles war farbig bemalt und außergewöhnlich ausdrucksstark , dahinein legte Bernt Notkes sein ganzes Talent. Und zu den lebensgroßen Figuren der Triumphkreuzgruppe zählen nicht nur die üblichen Trauernden Maria und Johannes, sondern auch noch zwei weitere Figuren. Sie knien direkt unter dem Kreuz und stellen Bischof Krumediek und Maria Magdalena dar. Dass der Bischof lebensgroß und in vollem Ornat die Bühne betritt, zeugt von ganz schön viel Selbstbewusstsein für einen Mann der Kirche. Auf jeden Fall ein Hingucker, so wie Maria Magdalena, die hier als elegante Dame auftritt und über deren wahre Identität allerhand Gerüchte kursierten... O la la! Einzigartig ist das, was man im Inneren der rückwärtig ausgehöhlten Figuren von Maria und Johannes entdeckt hat: zwei Inschriften, die das Entstehungsdatum des Lettners und die Namen der Künstler nennen, Bernt Notke und Gesellen. Auch wenn der Lettner nur in Teilen erhalten ist, vermittelt er doch eine wunderbare Vorstellung davon, wie prächtig das Innere der Kirchen einst ausgestattet war.

Lübeck, Dom, Retabel der Mühlenknechte v. Hans Hesse, © Archiv Anna Albrecht

Kapellen, Wände, Nischen und Pfeiler: sie waren geschmückt mit großen und kleinen Kunstwerken, die die Kaufleute, ihre Familien und Zünfte zum Heil ihrer Seelen stiftete, denn die Angst vor Fegefeuer und Hölle war bei allen gleich, der Tod unterschied nicht zwischen arm und reich, jung oder alt. Wer nicht vorsorgte, dem konnte Schlimmstes bevorstehen. Zu den kostbaren Stiftungen gehören zum Beispiel die Flügelaltäre – das sind jene Schatzkisten mit Schrein und Flügelpaaren, die sich wie Schränke öffnen und schließen ließen und in ihrem Inneren heilige Figuren und Geschichten beherbergten - geschnitzt oder gemalt.

Lübeck, Dom, Altar der Mühlenknechte, Innenseite mit linkem Flügel, 2023 Archiv Anna Albrecht

Wer mehr über die Lübecker Flügelaltarkunst wissen will, dem lege ich einen Besuch des St. Annen-Museums ans Herz. Es beherbergt eine der größten Sammlungen mittelalterlicher Flügelaltäre überhaupt. Wer keine Zeit dafür hat, der kann auch im Dom den Werkprozess aus nächster Nähe studieren: Wie die Kistenmaker (Kistenbauer), Bereden (Zubereiter), Snitger (Schnitzer) und Fassmaler (Maler) zusammenwirkten, um die heiligen Schatzkisten zu erschaffen. Ihre Fähigkeit zum Wandel war ihr größtes Zauber: Im Alltag blieben die Türen der Schatzkisten geschlossen, an hohen Feiertagen öffneten sie sich und gewährten den Blick auf das Allerheiligste, den goldenen Schrein. In der Fastenzeit verschwanden die heiligen Kästen unter unter Tüchern - so inszenierte man das göttliche Wunder. Lübeck war das Zentrum der Bildhauerkunst im Ostseeraum, seine Produktpalette so groß wie die Verbreitung - Koggen und Kraweelen schipperten mit den Flügelaltären im Bauch quer über die Ostsee.

Lübeck, St.Annen-Museum, 2023, © https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/4/42/St._Annenmuseum_4_2013_2.JPG/2560px-St._Annenmuseum_4_2013_2.JPG

Jetzt kann ich das Knurren in meinem Magen nicht mehr ignorieren, verlasse den Dombezirk durch das harmlose „Fegefeuer“ und nehme die St.-Annen-Straße in Richtung Museumsquartier und Synagoge. Für das Museum bin ich zu hungrig, für die Synagoge nicht angemeldet und eigentlich sehne ich mich auch nach einer ruhigen Minute und einen Sitzplatz. Da kommt mir das Konvent-Kaffee im Schatten des Chors von St. Ägidien gerade recht, hier gibt es ein großes Angebot an unterschiedlichen Kaffeespezialitäten. Gerade strecke ich die Beine von mir, da klingelt mein Smartphone. Meine zerknirschte Gastgeberin ist dran. Und nein, das Stromkabel hat sie nicht, dafür aber Lust auf eine Pause…  

Nach dem Kaffee geht’s zurück in die Wohnung, auf die Suche nach diesem verdammten Kabel, dessen Verschwinden wir uns beide nicht erklären können. Plötzlich hält mir meine Gastgeberin grinsend eine Kiste unter die Nase. Es ist genau die, die sie mir am Abend zuvor noch stolz präsentiert hatte, mit der Bemerkung, dass sie neuerdings alle Kabel darin aufhebe, das sei unglaublich praktisch. Ich starre sie sprachlos an, um dann in schallendes Gelächters auszubrechen. Genau diese Kiste stand die ganze Zeit hinter mir…

Lübeck, 2023 Archiv Albrecht

Das Heiligen Geist Hospital, das Günter Grass- und Willy Brandt-Haus, die Bücherpiraten, das neue Buddenbrookhaus und das alte Behnhaus, sie alle müssen auf meinen nächsten Lübeckbesuch warten. Dazu kommt es vielleicht im Winter, wenn der Wind durch die Gruben fegt und ich mehr Lust auf Museum habe. Wohin es nächste Woche geht? Über die Alpen in Richtung Süden. Wohin genau, das erfahrt ihr, wenn ihr Euch in meinen Newsletter eintragt!

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Novembertage am Lago - Ankommen ist wie Heimkommen

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LÜBECK: INSELRUNDE TEIL II