MAGIE TRIFFT POESIE: DAS GEHEIMNIS DER SKAGENMALERIN

Anna Ancher

Anna Ancher: Mädchen in der Küche (Hirschsprung Sammlung Kopenhagen) https://www.hirschsprung.dk/de

…so kam es, dass ich eines Tages nach Kiel fuhr, um mich an der Christian-Albrechts-Universität für das Fach Kunstgeschichte einzuschreiben. Damals kannte ich weder Christian Albrecht noch unsere Landeshauptstadt. Und für das Verwaltungshochhaus, den „Blauen Chrischan“ (ein Scheibenhochhaus aus den 1960er Jahren), hatte ich erst Recht keinen Sinn. Damals war ich einfach froh, ins Trockene zu kommen, denn draußen schüttete es wie aus Eimern: “Willkommen in Kiel“! Dass ich Jahre später auf der Dachterrasse desselben Hochhauses mein Promotionszeugnis in Empfang nehmen würde (übrigens bei schönstem Sonnenschein), ahnte ich natürlich nicht. Dafür schwitzte ich schon kurze Zeit danach über meinem ersten Referat: „Pigen i køkkenet“ oder: „Mädchen in der Küche“, ein Bild der Skagenmalerin Anna Ancher. Auch wenn ich seinem Geheimnis damals nicht sehr nahe kam, begleiteten mich Anna Anchers Bilder durch meine Studentinnenzeit. Inzwischen ist die Skagenmalerin ja schon fast ein Superstar, aber erst heute bin ich ihrem Geheimnis auf die Spur gekommen, und zwar dort, wo die Künstlerin malte, am nördlichsten Punkt Dänemarks – in Skagen.

Skagen

Der “geteilte Himmel” über Nordsee (links) und Ostsee(rechts) kurz vor Skagen, Dänemark

Es ist Mitte September. Über der Nordsee weitet sich ein tiefblauer Himmel, über der Ostsee wellen sich Wolkenbänder – werden sie Regen bringen? Ich habe keine Zeit darüber nachzudenken, denn nun fahre ich an Supermärkten und Möbelgeschäften vorbei in den beschaulichen Ortskern von Skagen, und dann gehts auch schon rechts ab in Richtung Hafen und Strandly Hotel. https://hotelstrandly.dk/en/ Von hier aus braucht man zu Skagens Kunstmuseum nur fünf Minuten, versichert mir das junge Besitzerpaar lächelnd und weist mir den Weg.

Skagen

Dänemark, Skagen

Es werden sehr ausgedehnte fünf Minuten, denn nach der langen Autofahrt bin ich froh über die frische Luft, etwas Bewegung und lasse mich treiben. Genau hierzu laden die kleinen gewundenen Wege in diesem alten Teil von Skagen nämlich ein. Leuchtend gelb reihen sich die in den Wind geduckten Häuser aneinander. Mit alten Sprossenfenstern, weißen Simsen und roten Dächern sind sie beschauliche Zeugen aus der Zeit, in der sich das abgelegene Skagen gerade mit der Welt verband und vom Fischerdorf zum Seebad wandelte. Damals wurde Skagen zum Treffpunkt von Künstlerinnen und Künstlern, die das einfache Leben fern der lärmenden Städte suchten.

Ein bisschen wehmütig sehe ich, wie die Stockrosen vor den warmen Backsteinmauern nach den letzten Sonnenstrahlen lechzen so wie die dunkel glänzenden Brombeeren an den Zweigen nach einer Kinderhand – Erinnerungen werden wach und die Zeilen eines längst vergessenen Liedes kommen mir in den Sinn: „Wie die volle Traube aus dem Rebenlaube purpurfarbig strahlt. Am Geländer reifen Pfirsiche, mit Streifen rot und weiß bemalt.“ Alles wirkt hier so verträumt und zeitvergessen und doch sind es nur wenige Meter bis zum geschäftigen Fischereihafen, er soll der größte in ganz Dänemark sein.

Hotel Skagen

Skagen, Brøndums Gasthof mit Wintergarten

Da plötzlich stehe ich vor Brøndums Gasthof. Hier ist es also, wo Anna Ancher, geborene Brøndum, zur Welt kam, am 18. August 1859, das war ein Donnerstag. In dem gepflegten Garten, wo heute weiße Deckchairs zum Verweilen einladen, verbrachte Anna ihre Kindheit (ob sie sorglos war?) und in der Gaststube wird sie zum ersten Mal ihren späteren Ehemann, den Maler Michael Ancher, getroffen haben. Damals war Anna gerade vierzehn Jahre jung und feierte ihre Konfirmation. Die legendäre Gaststube hat man samt ihres berühmten Porträtfrieses, der die Köpfe aller Malerinnen und Maler zeigt, ins Museum versetzt. Die mit Bildern ausgestattete und vertäfelte Stube war einziger geselliger Treffpunkt der Künstler, die ins einsame Skagen kamen. Hier saßen sie zu Tisch, bei Brot, Wein und Fisch. Scherzten, stritten und diskutierten über das Wetter, die Ereignisse im Dorf und vielleicht über die Qualität der neuesten Farbtube? Wer war ihr Wortführer? Vielleicht Holger Drachmann, der Dichter und Maler, der als erster nach Skagen kam, und dessen hübsches Fachwerkhaus ich später noch besuchen werde. Und Anna, wo steckte sie? Blieben die Frauen unter sich? So viele Fragen, die mir in den Kopf kommen und dann bemerke ich mit Schrecken die vorgerückten Zeiger auf meiner Armbanduhr: höchste Zeit fürs Museum! Zum Glück liegt es gleich gegenüber. https://skagenskunstmuseer.dk/de/

Museum Skagen

Skagen, Neuer Eingang Skagens Museum

Vor seinem Eingang steht eine Bronzeskulptur. Sie trägt keine Aufschrift, aber das ist auch nicht nötig, denn mir ist eigentlich sofort klar, was oder wen sie darstellt: die männlichen Protagonisten der Skagener Künstlerkolonie Peder Severin Krøyer und Michael Ancher, denn für sie (gemeint ist die Künstlerkolonie) wurde das Museum gebaut und 1928 eröffnet. Weniger Goethe-und-Schiller-Pose, dafür mehr Anna Ancher hätte ich mir an dieser Stelle schon gewünscht, aber egal, schnell hinein in die heiligen Hallen, eine Schulklasse steht auch schon Schlange. Die Eingangstür liegt zwischen dem modernen Museumsbau aus dunklem Schiefer (2016) und dem alten aus rotem Backstein (1928). Dieser schlichte Bau stammt noch von Ulrik Plesner. Der jütländische Architekt erweiterte damals Brøndums Gasthof, als der Tourismus zunahm. Plesner war auch Mitglied der kleinen Künstlergemeinschaft und schuf mit seinem Museumsbau den passenden Rahmen für ihre Kunst.

Skagen Museum

Dänemark, Skagen, Alter Eingang Skagens Museum

Tatsächlich hängen die Gemälde auch im alten Teil und hier man hat viel Mühe und Gedanken darauf verwandt, die Bilder zum Sprechen zu bringen. Keines der Gemälde drängt sich auf oder vor, obwohl sie sehr unterschiedlich im Format sind. Ganz im Gegenteil, sie scheinen hier ein stillvergnügtes Mit- und Nebeneinander zu pflegen, unser Schmunzeln, Runzeln und Staunen inbegriffen. Nicht alle Bilder sind perfekt geraten und doch bilden sie ein großartiges Panorama der Skagener Malergemeinschaft – fast wie eine Gesellschaft bei Tisch. Und da höre ich es plötzlich: das Klappern von Tellern, das Murmeln, Fluchen und Lachen…. Es ist natürlich nur die Schulklasse, die jetzt lärmend den Saal betritt, aber für einen Moment kam es mir wirklich so vor, als säße ich mit am Tisch in Brøndums Gaststube und lauschte den Gesprächen über das Wetter und den Wind, die Fischerei und die Frauenarbeit, die Mittel der Malerei und den Schiffbruch am Strand.

Skagen Maler

Peder Severin Krøyer: Mittagessen der Künstler in Brøndums Hotel (Skagens Museum)

Dann gehe ich von Raum zu Raum und bin wie berauscht, denn hier im Museum verraten die Malerinnen und Maler ihre kleinen Geheimnisse: In satten Farben, großen Gesten und kleinen Details, wie einer triefenden Nase, erzählt Michael Ancher von dem Ernst des Fischerlebens, dem immer währenden Kampf mit den unberechenbaren Mächten zwischen den Meeren. Seine Bilder handeln von dem rauen Leben und dem plötzlichen Tod eines Gefährten, aber auch von Liebe und Wahrhaftigkeit. Eines seiner schönsten Bilder ist das monumentale Porträt seiner Frau Anna: In ihrem hellen Sommerkleid mit den gelben Feldblumen im Arm tritt sie uns entgegen, die große Malerin aus Skagen, aufrichtig, ernst, fast ein bisschen streng. Eine Frau, die das freie Leben an der Landspitze zwischen den Meeren liebt und ihre Bewohner kennt, schließlich ist sie eine von ihnen. Das unterscheidet sie von allen anderen Malerinnen und Malern der Skagener Künstlerkolonie.

Anna Ancher

Michael Ancher: Anna Ancher (Skagens Museum)

Skagen Maler

Was für ein Gegensatz zu dem benachbarten Porträt, das Peder Severin Krøyer von seiner Frau Marie gemalt hat. Im romantischen Mondlicht stellt er sie dar, gekleidet in ein bodenlanges feines Kleid mit einem üppig geschmückten Hut in der Hand und einem Hund neben sich - das Bild einer Städterin. Keine Spur von rauer See, sondern es ist ein stilles Meer, über das Maries sehnsüchtiger Blick in die Ferne schweift. Dass sich die Fischergemeinde hinter ihrem Rücken über sie lustig gemacht hat, verrät der Katalogtext. Peder Severin Krøyer gilt als der bedeutendste Vertreter der Skagener Künstlerkolonie. Seine Figuren und Landschaften sind kleine Meisterwerke, zeigen keinerlei Schwächen in Anatomie, Aufbau oder Farbgebung und verraten am deutlichsten den Einfluss der französischen Impressionisten. Man versinkt in ihrer lichttrunkenen Schönheit. Anders als Michael Ancher interessiert sich Krøyer weniger für die den Alltag der Einheimischen, sondern er gibt ihrem sorgenlosen Leben am Strand den Vorzug: den Jungen, die vergnügt ins Wasser hüpfen, den Damen, die am Spülsaum im Mondschein flanieren oder sich im Liegestuhl erholen.

Anna Ancher

Anna Ancher: Fischermädchen beim Nähen (Skagens Museum)

Und dann stehe ich da und staune über Anna Anchers Bilder. Viele von ihnen sind kleinformatig und nehmen den weiblichen Alltag in den Blick: Kinder stillen und erziehen, Mütter, Väter und Ehemänner beerdigen, Geflügel rupfen, kochen, nähen, stricken, flicken. Nichts Besonderes also, und doch scheint ihre Welt im Kleinen das Große zu spiegeln, das Leben, wie es war, wie es ist und immer sein wird? Wie gelingt der Malerin das? Sie überrascht und verführt uns - sie kennt ihre Betrachterinnen und Betrachter genau. Zuerst einmal werden wir in die Rolle der heimlichen Zuschauer gedrängt. Das liegt nicht am Bildthema, denn Annas Bilder hüten keine weiblichen Geheimnisse. Es ist der raffiniert gewählte Bildausschnitt. Schließlich lässt uns die Malerin ja nicht ins Haus eintreten, sondern sie gewährt uns nur einen kurzen Blick durch das kleine Sprossenfenster in einen Winkel des Hauses, der ausgeleuchtet ist. Aber der Rest bleibt im Dunkeln und deshalb auch geheimnisvoll wie die Schattenbilder der Sprossen, die über die Wände tanzen. Und jetzt? Was passiert im Bild? Wieder ist es gar nichts Besonderes. Anna Anchers Frauen und Kinder sitzen oder stehen, meist allein, vor oder in der Nähe eines Fensters, durch das das Licht auf sie fällt. Dabei widmen sie sich still ihrer Arbeit, einem Buch oder sie sind ins Gebet vertieft und das geschieht mit voller Hingabe und Versunkenheit. Und dazu entfaltet Anna Ancher bei ihrer Schilderung eine unglaubliche malerische Kraft: Sonne und Schatten, Licht und Dunkel, Leben und Sterben: alles das taucht sie in Farbstufen, die von Hellrosa über Orange und Gelb bis ins tiefe Blau übergehen. Sie jongliert mit den Farbklängen wie eine Klavierspielerin mit den Tasten des Klaviers. Natürlich, Anna Ancher hat das Malen ja auch gelernt. Als Anfängerin bekam sie privaten Unterricht in Kopenhagen, lernte von den Kollegen vor Ort und später bei Puvis de Chavannes in Paris. Die offiziellen Akademien ließen damals ja noch keine Frauen zum Studium zu. Aber Anna Ancher beobachtete auch genau, was ihre Kollegen und Kolleginnen malten. Sie besuchte die internationalen Ausstellungen. Und zusammen mit ihrem Mann Michael reiste sie bis nach Wien, Holland und Belgien, verbrachte ihre Winter in Kopenhagen und stellte hier wie dort selbst aus. Trotzdem blieb sie den Farben und Themen der Heimat treu. Sicher, nach dem Aufenthalt in Paris hellt sich ihre Palette auf, zunehmend baut sie ihre Bilder “nur” noch aus Licht und Farbe zusammen, aber anders als ihren französischen Kolleginnen und Kollegen geht es ihr nicht darum, den Moment der Veränderung, das Licht an sich zu malen, sondern im Gegenteil: Anna Anchers Bilder zeigen keine Spuren von Tageszeiten oder Witterungseinflüssen. Sie lässt die Haustür zu und damit das Kreischen der Möwen, das Gerede der Nachbarn, den Abend und den Morgen außen vor. Die lauten Dinge haben keinen Platz in ihren Bildern. Stattdessen widmet sie sich der Fülle der Stille, dem reinen Dasein. Auch wenn die Frauen lesen, stricken oder beten, gemeint ist hier das Leben. Dafür lässt die Malerin das Licht durch die kleinen Fenster fließen und schafft eine Atmosphäre, in der das Erzählerische ins Ewige gerückt wird – zu gemalter Poesie wird. Anna Ancher feiert die Wahrhaftigkeit des Daseins, licht und leise, und genau das stößt in unser Innerstes vor: Was brauchen wir, um ein wahrhaftiges Leben zu führen?

Vermeer

Johannes Vermeer: Milchmagd (Rijksmuseum Amsterdam)

Es sind keine unbekannten malerischen Mittel, die Anna Ancher hier anwendet. Schon 350 Jahren zuvor verstand sich der holländische Maler Johannis Vermeer perfekt darauf. Schließlich pilgern nicht umsonst jährlich Tausende von Touristen ins Rijksmuseum nach Amsterdam, um seiner Küchenmagd bei der Arbeit über die Schulter zu sehen. https://www.rijksmuseum.nl/de/ Was ist es, das die Menschen an diesem kleinen Bild so fasziniert? Der Verlust an Stille und Geborgenheit in unserer lauten Zeit? So wie Vermeer das Plätschern der Milch als einzigen Laut in seinem Bild duldet, ist es bei Anna Ancher das Klappern der Nadeln.

Anna Ancher

Anna Ancher: Sonnenlicht im Blauen Zimmer (Skagens Museum)

Skagen ist ein magischer Ort und Anna Ancher hat ihm ein poetisches Erbe hinterlassen. Das wirkt lange nach, auch nachdem die gelben Häuser mit ihren roten Dächern längst im Rückspiegel verschwunden sind. Ich ahne nun, was mir im ersten Semester gefehlt, mich aber nie losgelassen hat! Kein Seminar und kein Buch, nur der Ort selbst ist der Schlüssel zu Anna Anchers Werk – und das Gefühl von Wahrhaftigkeit, das zwischen den Meeren wächst.

Skagen Kattegat

Skagen zwischen den Meeren: Nord- und Ostsee

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KATHEDRALE ZUM FRÜHSTÜCK ODER: EIN ALLTAG ZWISCHEN BAMBERG UND PARIS, ZWISCHEN SCHREIBTISCH UND GERÜST

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DIE SACHE MIT DER KUNST IN DER KINDHEIT